Gas aus? Hirn an!

Strommangellage, geschlossene Gaspipelines, Milliarden-Darlehen für die Axpo: P.S. erklärt, was es mit der «Energiekrise» auf sich hat.

 

Stark steigende Strom- und Gaspreise. Im einen Ohr die Energiesparkampagne des Bundes, im anderen das Geschrei der SVP von der angeblich gescheiterten Energiestrategie 2050 und die Forderung nach neuen AKW: höchste Zeit für eine Übersicht. Wie schlimm ist die Energiekrise tatsächlich, und was können wir dagegen tun?

 

Worin genau besteht die «Energiekrise»?

Dazu erst mal eine Rückblende. Gross war das Wehklagen unter den StromproduzentInnen bereits vor gut zwei Jahren, allerdings aus dem entgegengesetzten Grund, wie Hanspeter Guggenbühl am 8. April 2020 im ‹Infosperber› festhielt: «Der Stromkonsum in Mitteleuropa verminderte sich in den letzten Wochen um 10 bis 30 Prozent gegenüber der Vergleichsperiode im Vorjahr, dies als Folge der Massnahmen gegen die Corona-Epidemie. Damit sanken die kurzfristigen Preise auf dem Strom-Spotmarkt auf ein Rekordtief.» Er schrieb aber auch folgendes: «Kohle- und Gaskraftwerke stehen jetzt mehrheitlich still, weil der Bandstrom aus Solar-, Wind-, Fluss- und Atomkraftwerken allein die meiste Zeit reicht, um die Nachfrage zu decken.» Unter der Preisflaute litten damals also, wie er weiter schrieb, «vor allem die Betreiber von Wasser-Speicherkraftwerken, die Strom für Verbrauchsspitzen produzieren. Denn die Preise für Spitzenstrom auf dem Spotmarkt liegen momentan nur geringfügig über dem Preisniveau für Bandstrom». 

 

Und damit in die Gegenwart: Nach Corona, also jetzt, herrscht offensichtlich Aufholbedarf, es wird munter produziert und konsumiert, womit logischerweise auch der Energiebedarf steigt. Gleichzeitig gelangte seit Russlands Krieg gegen die Ukraine immer weniger Gas in den Westen, und jüngst hat Wladimir Putin den Gashahn der Pipeline NordStream 1 ganz zugedreht. Beim Strom wiederum fallen zwei Effekte ins Gewicht: Erstens hat der Bundesrat die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU nach jahrelangem Hin und Her ergebnislos abgebrochen, was auch das Ende des ebenfalls lange diskutierten Stromabkommens mit der EU bedeutete. Die Schweiz liegt aber bekanntlich mitten in Europa und fungiert als Strom-Drehscheibe. Dass unsere Nachbarn den Strom künftig zwar physisch über unser Territorium, aber effektiv an uns vorbei leiten, tönt doch eher unwahrscheinlich – und dass die Schweiz, so es denn so käme, dem tatenlos zuschauen würde, ebenfalls.

 

Zweitens ist zurzeit etwa die Hälfte der französischen AKW, von denen die Schweiz jeweils hauptsächlich im Winter Strom zu beziehen pflegt, nicht am Netz, sei es wegen geplanter Revisionen, sei es wegen korrodierter Leitungen. Ob diese AKW bis im Winter fertig repariert sein werden, kann man hoffen, sicher wissen tut es aber niemand.

 

Aber wenn Gasmangel das Problem ist: Weshalb steigen dann die Strompreise?

Daran, dass der Gasmangel auch den Strompreis in die Höhe treibt, ist der sogenannte Merit-Order-Effekt schuld: Die varia­blen Kosten jenes Kraftwerks, das gerade noch nötig ist, um den aktuellen Bedarf zu decken, bestimmen auch den Preis am Spotmarkt, wie Hanspeter Guggenbühl im eingangs erwähnten Artikel ausführte.

 

Das heisst: Wenn der Verbrauch tief ist, dann bleiben nur noch die Solar- und Windkraftwerke am Netz, deren variable Kosten bei null liegen. In Betrieb sind dann ausserdem Lauf-Wasserkraftwerke und Atomkraftwerke. Diese haben zwar hohe Kapital-, aber tiefe Betriebskosten – womit auch gleich die Frage beantwortet ist, weshalb es nichts bringt, jetzt nach neuen AKW zu rufen: Das dafür nötige Kapital will erstens niemand in die Hand nehmen, und zweitens würde es viele Jahre dauern, bis sie gebaut wären und Strom lieferten. Der Strom ist also günstig, solange die Nachfrage tief genug ist, dass kein Kohle- oder Gaskraftwerk laufen muss.

 

Im umgekehrten Fall, bei hohem Strombedarf, werden nach Sonne-, Wind-, Wasser- und Atomkraft schliesslich auch noch Kohle- und Gaskraftwerke zugeschaltet. Damit sind letztere «gerade noch nötig, um den aktuellen Bedarf zu decken», und damit sind auch sie es, die den Preis bestimmen, und der ist normalerweise schon hoch und angesichts der aktuell unsicheren Lage, was die Gaslieferungen betrifft, noch höher.

 

Diesen hohen Preis bezahlen logischerweise die KonsumentInnen … womit denn, wenn gleichzeitig die Inflation Löcher ins Portemonnaie reisst?

In Deutschland hat sich die Politik am Wochenende auf ein weiteres Entlastungspaket geeinigt, und zwar von 65 Milliarden Euro: Rentnerinnen und Studenten sollen entlastet werden, mehr als doppelt so viele Menschen wie bisher erhalten Wohngeld, es gibt mehr Kindergeld etc.. An der Pressekonferenz vom 4. September in Berlin sagte Bundeskanzler Olaf Scholz gemäss Protokoll auf der Website der Bundesregierung aber auch, im Strommarkt gebe es zurzeit «Zufallsgewinne, Übergewinne, die von Produzenten erzielt werden, die einfach die Situation nutzen können, dass der sehr teure Preis für Gas den Strompreis bestimmt, und sie deshalb sehr, sehr viel Geld verdienen» könnten. Deshalb habe sich die Bundesregierung vorgenommen, «dass wir die Marktordnung so ändern, dass diese Zufallsgewinne nicht mehr anfallen oder sie abgeschöpft werden. (…) Wir werden eine Erlösobergrenze für diejenigen auf dem Strommarkt festsetzen, die nicht die hohen Gaspreise bezahlen müssen, die also Strom produzieren mit Windenergie, Solarenergie, Biomasse, Kohlekraft oder Nuklearenergie».

 

Braucht es denn in der Schweiz kein solches Entlastungspaket und kein Abschöpfen von Zufallsgewinnen?

Die Situation bei uns ist nicht direkt vergleichbar mit jener in Deutschland: Hier liegt die Inflation bei 3,5 Prozent, in Deutschland bei über 9 Prozent. In Deutschland ist der Strommarkt zudem liberalisiert, d.h. auch die Privathaushalte können sich ihren Stromanbieter frei aussuchen und sind deshalb jetzt teilweise mit extremen Preisaufschlägen konfrontiert. In der Schweiz sind die Privathaushalte an die Grundversorger gebunden, die in ihrer Wohngegend tätig sind. Hier kann man Glück haben oder Pech: Bezieht der Grundversorger seinen Strom zu einem grösseren Teil am Markt, dann wird es für die KundInnen tendenziell teuer. Produziert der Grundversorger jedoch den meisten Strom selbst wie beispielsweise das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich EWZ, dann bleiben die Preise für die KonsumentInnen (zumindest vorderhand …) unverändert. Im Durchschnitt steigen die Preise für Privathaushalte in der Schweiz gemäss Berechnungen der Elektrizitätskommission (Elcom) im nächsten Jahr um 27 Prozent.

 

Darüber, ob – und falls ja, wie – übermässige Gewinne abgeschöpft und Privathaushalte unterstützt werden sollen, wird hierzulande aber durchaus diskutiert. FDP-Präsident Thierry Burkart erklärt in der ‹Zürichsee-Zeitung› vom 2. September, ein Eingriff durch den Staat sei «immer nur als Ultima Ratio vertretbar», und GLP-Präsident Jürg Grossen wird mit der Aussage zitiert, «wir dürfen nicht in Hyperaktivismus verfallen». Im gleichen Artikel heisst es, zusammen mit den Grünen dürfte die SP in der Herbstsession, die nächste Woche beginnt, eine «konzertierte Aktion» starten. Bereits hängig ist ein Vorstoss von SP-Ständerat und Mieterverbandspräsident Carlo Sommaruga für eine jährliche Energiezulage. Die SP schlägt aber auch eine «Übergewinnsteuer» für Unternehmen vor, die wegen der hohen Strompreise überdurchschnittlich viel verdienen. Zudem hat der Bundesrat letzte Woche eine Kampagne gestartet, die sich an alle EinwohnerInnen richtet und ihnen unter anderem beliebt macht, die Heizung runterzudrehen, den Backofen nicht vorzuheizen und auf LED-Lampen umzustellen, kurz, soviel Strom zu sparen wie möglich. 

 

Und was ist mit den Unternehmen?

Die Unternehmen in der Schweiz können seit rund zehn Jahren wählen, ob sie in der Grundversorgung bleiben oder sich ihren Strom am Markt beschaffen wollen. Wer sich für letzteres entschieden hat, ächzt jetzt ebenfalls unter teils extremen Preiserhöhungen. Kürzlich gab beispielsweise das Stahlwerk Gerlafingen bekannt, es habe ab Oktober vorsorglich Kurzarbeit beantragt, weil angesichts der exorbitanten Strompreise demnächt möglicherweise die Produktion (oder zumindest ein Teil davon) eingestellt werden müsse. Doch auch die Stromanbieter selbst sind in einer schwierigen Lage.

 

Inwiefern?

Da die Preise am Strommarkt verrückt spielen, brauchen sie immer mehr liquide Mittel. Strom wird am Markt nicht per sofort, sondern für später verkauft. Die Käuferin muss deshalb sicherstellen, dass sie zum vereinbarten Zeitpunkt kaufen kann, und der Verkäufer muss garantieren, dass er dann liefern kann – auch wenn die effektiven Preise dannzumal höher bzw. tiefer sein sollten als seinerzeit vereinbart. Dafür gilt es die nötigen finanziellen Mittel zurückzulegen. Steigen die Preise nun ständig an, nehmen auch die Mittel für diese finanzielle Absicherung umfangmässig stetig zu. Im Mai beschloss der Bundesrat deshalb im Sinne einer kurzfristigen Massnahme das dringliche Bundesgesetz über Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft, auch Rettungsschirm genannt.

 

In einer am Dienstag verschickten gemeinsamen Medienmitteilung der Eigentümervertreter der Axpo Group (Kantone Zürich, Aargau, Schaffhausen, Glarus und Zug, Elektrizitätswerke der Kantone Zürich EKZ, Aargau AEW, Thurgau EKT sowie St. Gallisch-Appenzellische Kraftwerke AG) halten diese fest, dass sie beim Bundesrat einen Antrag auf eine solche Finanzhilfe gestellt haben. Der Bundesrat hat dem Antrag stattgegeben und einen Kreditrahmen im Umfang von bis zu vier Milliarden Franken verfügt. Die Axpo-Eigentümer schreiben dazu weiter: «Angesichts der unvorhersehbaren Entwicklung an den Energiemärkten muss jedes Risiko einer Kettenreaktion mit hohen finanziellen und wirtschaftlichen Schäden vermieden werden. Die Axpo ist für die schweizerische Stromversorgungssicherheit systemrelevant.»

 

Wie geht es nun weiter: Überall sparen und statt mit dem E-Bike wieder mit dem gewöhnlichen Velo herumfahren, oder sich keine Sorgen machen und ganz einfach das Ende der Krise abwarten?

 

Wer den Unterschied zwischen Gas bzw. Strom und dem jeweiligen Markt im Auge behält, sollte ruhiger schlafen können: Die Gefahr eines Blackouts oder langer Stromabschaltungen in der Schweiz scheint aufgrund der bisherigen öffentlichen Verlautbarungen der Verantwortlichen nicht allzu gross zu sein. Steigen aber die Preise steil in die Höhe, dann liegt es nahe, sich zu sagen, dass es wohl schlimm sein muss, denn weshalb stiegen sonst die Preise? Dabei steigen sie vielleicht vor allem, weil es am Markt den einen gelingt, die anderen von einer angeblichen Knappheit zu überzeugen – und so tüchtig Geld zu verdienen.

 

Was das Sparen betrifft, ist die Rechnung einfach: Reicht der Strom aus Solar-, Wind-, Fluss- und allenfalls noch Atomkraftwerken, um die Nachfrage zu befriedigen, dann sinkt der Strompreis, siehe oben. Ob es Haushalte und Unternehmen allerdings schaffen, innert nützlicher Frist so viel einzusparen, dass diese Rechnung aufgeht – das wissen die Götter.

 

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