Galileo

Auch wenn er es nicht zugeben will: Trump hat die Wahl verloren. Eine grosse Erleichterung und Freude machte sich breit. Dennoch bleibt ein wenig Fassungslosigkeit, dass 70 Millionen Menschen diesen Präsidenten wiedergewählt haben. In voller Kenntnis seines Wesens und seiner Taten. Etliche hatten gehofft, dass sein katastrophales Management der Corona-Pandemie dazu führen könnte, dass sich Menschen von ihm abwenden. Passiert ist dies nur beschränkt. Trump machte mehr Stimmen als vor vier Jahren. James Hamblin vermutet in ‹The Atlantic›, dass Trump Menschen überzeugt habe, weil er ihnen gesagt hat, was sie hören wollen und nicht das, was sie hören müssten. Wie ein Quacksalber versprach er ihnen einfache Lösungen und eine schnelle Rückkehr zur ersehnten Normalität. Biden hingegen sprach von härteren Massnahmen und einem langen Winter. Die Leute mögen also die Wahrheit nicht immer, wenn die Lüge verführerischer klingt.

 

Die Diskussion rund um Corona hat schon früher begonnen, der Klimadiskussion zu ähneln. Fakten werden angezweifelt, WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen duellieren auf Twitter. Am Schluss dreht es sich um die Frage, ob man der Wissenschaft glaubt oder nicht. Auch wenn Glauben und Wissenschaft ja irgendwie nicht zueinander passen.

 

Der italienische Universalgelehrte und Astronom Galileo Galilei wurde 1633 von der Inquisition zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt, weil er das kopernikanische Planetensystem gelehrt hatte und sich weigerte diesem abzuschwören. «Und sie (die Erde) bewegt sich doch», soll er beim Verlassen des Gerichtssaals gesagt haben. Das ist wohl eine nachträgliche Legende. Aber Galileos Prozess hat seinen festen Platz in der Erzählung der Aufklärung und des Fortschritts. Der Kampf der Wissenschaft gegen die (religiöse) Reaktion. Nun fühlen sich heute aber alle wie Galileo, die KlimaforscherInnen genauso wie die SkeptikerInnen. Keiner ist die Inquisition, jede fühlt sich der Aufklärung zugehörig. Der überwältigende Konsens der Wissenschaft sagt, dass der Klimawandel menschgemacht und eine grosse Gefahr ist. Aber war es denn nicht auch nur eine mutige Minderheit, die das kopernikanische Planetensystem vertreten hat, sagen jene, die diesen Konsens infrage stellen. Und schon ist Wissenschaft zur Glaubensfrage geworden. Mit Fakten und alternativen Fakten. Genau gleich läuft es bei Corona.

 

Die Gretchenfrage zur Wissenschaft ist es, die den momentanen politischen Diskurs dominiert. Nicht links gegen rechts oder Öffnung gegen Isolation. Sondern die Frage des Glaubens an die Wissenschaft. Und es ist daher kein Zufall, dass davon vor allem eine Partei in der Schweiz profitiert. Es sind die Grünliberalen, die dies wohl am ehesten verkörpern: Ein vollumfängliches Vertrauen in die Wissenschaft und ihre Rezepte. Zumal es ja die Naturwissenschaften sind, die im Zentrum stehen. Das erklärt auch, warum die SP bis anhin nicht profitieren konnte, obwohl sie gerade unter der Führung der neuen Co-Präsidentin Mattea Meyer die substanziellsten Beiträge zur wirtschaftlichen und sozialen Bewältigung der Krise geleistet hat. Aber die SP bleibt dabei letztlich in jener Rolle gefangen, die zwar nötig, aber auch undankbar ist. Jene der roten Ambulanz, welche die schlimmsten Folgen des Systems notdürftig abmildern kann. Das Zentrum der Auseinandersetzung wird aber woanders geführt. Zumal die SP als Regierungspartei in einer schwierigen Rolle ist, weil ihr stets droht zwischen Hammer und Amboss zu geraten. Bundesrat Berset beispielsweise wird momentan von beiden Seiten angefeindet, von jenen die mehr und jenen die weniger Massnahmen wollen. 

 

Die SP ist vermutlich eine Partei, die eher von GeisteswissenschaftlerInnen geprägt ist. Sie  begegnet darum der Wissenschaft mit mehr Differenzierung als blindem Glauben. Die Geisteswissenschaften haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten – es folgt hier natürlich eine etwas unsachgemässe Verkürzung – erfolgreich eingebracht, dass es eigentlich keine absoluten Gewiss- und Wahrheiten geben kann und dass auch die Wissenschaft von der Gesellschaft und ihren Vorurteilen geprägt wird. Das ist zwar richtig, passt aber nicht in den aktuellen Diskurs, der Klarheiten und nicht Ambivalenzen sucht. Die Geisteswissenschaften haben auch ihre Deutungshoheit in der gesellschaftlichen und politischen Debatte verloren. Die öffentlichen Intellektuellen von links oder rechts sind heute Ökonominnen, Klimaforscher oder Epidemiologen. Vielleicht schafft es knapp mal eine Politologin, sich in die öffentliche Diskussion einzubringen.  Das Verschwinden der Geisteswissenschaft aus dem öffentlichen Diskurs hat wohl auch damit zu tun, dass diese in den letzten Jahren feminisiert wurde. Und Frauen – wie die streitbare Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli mal pointiert festgehalten hat – werden nicht als öffentliche Intellektuelle anerkannt. Und das hat was: Brilliante Denker sind in der öffentlichen Wahrnehmung tatsächlich fast ausschliesslich Männer. Ab und an sagt eine Frau vielleicht mal was Kluges, aber das war es dann schon.

 

Wir haben es hier aber nicht mit einer reinen Genderfrage zu tun, auch wenn sich das die Männlichkeit des Expertentums in der Coronakrise medial noch akzentuiert hat. Wohl auch, weil etliche WissenschaftlerInnen zu Hause mit Fernunterricht beschäftigt waren. Die Abwertung der Geisteswissenschaften hat aber auch mit neoliberaler Logik zu tun, weil sie sich wohl weniger gut vermarkten lässt und dem System gegenüber kritischer eingestellt ist.  Die Ausnahme: Selbsthilfe- und Ratgeberliteratur. Die darf dann auch mal philosophisch sein. 

 

Die Nüchternheit der Wissenschaft, die propagierte Vernunft und vermeintliche Ideologiefreiheit spricht beide an, Frauen genauso wie Männer.  Denn sie stillt letztlich eine Sehnsucht nach Lösungen, nach Klarheit, nach Sachlichkeit. In einer polarisierten Welt, in einer immer gehässigeren Debatte ist dies auch nachvollziehbar. Wut, Hass und Empörung gibt es – gerade rechts der Mitte – genug. Es ist eine Sehnsucht nach Lösungen. Wobei nicht die Lösung an und für sich im Zentrum steht, sondern der Glaube daran, dass es Lösungen gibt. Solutionismus nennt Evgeny Morozow dieses Suchen nach technischen Lösungen, die aber an der Ursache des Problems vorbeigehen.

 

Was heisst das jetzt für die Linke? Für die Grünen nicht viel, denn auch sie profitieren davon. Die SP wird und muss sich weiterhin für konkrete Problemlösungen einsetzen. Aber wir müssen auch besser erklären können. Was wir tun, was wir wissen und was wir glauben. 

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