Fussball, Folklore und ein bisschen Marx

Seit rund 40 Jahren ist der FC Winterthur Dauergast in der Challenge-League. Simon Muster sprach mit dem ehemaligen Sportreporter und FCW-Fan Beni Thurnheer über die Aufstiegschancen, über seine Faszination für Fussball und wie sich der Sport  über die Jahrzehnte verändert hat.

 

Spannender geht nicht mehr. Einen Spieltag vor Schluss präsentiert sich die Tabelle der Challenge-League, der zweithöchsten Schweizer Männerfussballliga, so umkämpft wie schon lange nicht mehr:

 

Die Tabellensituation vor dem 36. Spieltag

– 1. Aarau 65 Pkte.

– 2. Winterhur 62 Pkte.

– 3. Schaffhausen 62 Pkte.

– 4. Vaduz 57 Pkte.

– 5. Thun 53 Pkte.

– 6. Xamax 47 Pkte

– 7. Lausanne 44 Pkte.

– 8. Yverdon 44 Pkte.

– 9. Wil 41 Pkte.

– 10. Kriens 13 Pkte

 

Theoretisch können noch drei Teams den Aufstieg in die Super-League schaffen: der FC Aarau, der FC Winterthur und der FC Schaffhausen. Dem erstplatzierten FC Aa­rau, welcher am Samstag gegen den FC Vaduz spielt, würde ein Unentschieden für den direkten Aufstieg reichen.

 

Für die beiden Erzrivalen FC Winterthur und FC Schaffhausen geht es am Samstag also wahrscheinlich um den zweiten Platz und somit darum, wer gegen den Zweitletzten der Super-League um den Aufstieg spielen kann. Der FC Winterthur muss am letzten Spieltag zum Tabellenschlusslicht Kriens – gelingt ihm dort ein Sieg, bleibt die Hoffnung, dass die Winterthurer das erste Mal seit 1985 wieder in der höchsten Männerfussballliga spielen, am Leben.

 

Trotz dieser Ausgangslage wirkt Beni Thurnheer, der inzwischen seit über sechs Jahrzehnten die Schützenwiese besucht, gelassen an diesem bewölkten Nachmittag in Winterthur. 

 

Er sitzt im Restaurant Fredi, in dem er offensichtlich ein regelmässiger Gast ist, wobei es wohl wenige Orte in der Schweiz gibt, wo man sein Gesicht und seine Stimme nicht kennt.

 

Mitte April war der FC Winterthur auf Platz 1. Sie haben damals gegenüber TeleZüri die Aufstiegschancen des FC Winterthurs auf 40 Prozent geschätzt. Waren Sie zu optimistisch?

Nein, man muss seine Vorhersagen erst korrigieren, wenn sie nicht eingetroffen sind. (lacht) Ich hätte natürlich auch 60 Prozent sagen können, aber mir war klar, dass die Wahrscheinlichkeit eher kleiner ist als 50/50. 

 

Inzwischen hat der FC Winterthur seinen zwischenzeitlich komfortablen Vorsprung verspielt. Was ist passiert?

Eigentlich passt das in diese verrückte Saison, in der jeder jeden schlagen kann. Winterthur hat zwar oft gewonnen, aber selten beruhigend. Ganz im Gegenteil: Winterthur ist oft in Rückstand geraten, hatte Schiedsrichterglück und viele Spiele nur mit einem Tor Vorsprung gewonnen. Deshalb könnte man auch sagen, es ist ausgleichende Wahrscheinlichkeit, dass die Punkte Ende Saison nicht mehr im gleichen Masse gekommen sind. 

 

Und jetzt könnten Sie theoretisch noch vom Erzrivalen FC Schaffhausen am letzten Spieltag überholt werden …

Ja, das wäre für die viele Fans sicher schmerzhaft, mich persönlich interessiert das weniger. Wobei sich schon die Frage stellt, ob die Super-League lieber einen Klub möchte, der einen Schnitt von 5000 ZuschauerInnen pro Spiel hat oder den FC Schaffhausen mit durchschnittlich 837 ZuschauerInnen. Die Super-League würde sicher von einem Aufstieg des FC Winterthurs profitieren. Aber wenn der FC Schaffhausen Ende Saison mehr Punkte hat, dann hat er das natürlich verdient.

 

Ist das die spannenste Challenge-League-Saison aller Zeiten?

Ja, zumindest so weit ich mich erinnern kann. Die Saison war so spektakulär, weil jede Mannschaft offensiv ausgerichtet ist. Das bedeutet zum einen, dass es viele Tore gibt, zum anderen aber auch, dass die Teams defensiv viele Chancen für den Gegner zulassen. 

Für die ZuschauerInnen ist das natürlich ein Spektakel, aber es bedeutet halt auch, dass die defensiven Leistungen für die Super-League nicht ausreichen werden. 

 

Sie besuchen seit mehr als sechs Jahrzehnten die Schützenwiese. Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Spiel?

Ja, dazu habe ich sogar eine Anekdote.

 

Oh, bitte, eine Anekdote!

Es war das Derby gegen den FC Zürich 1956, ich war sieben Jahre alt. Der FC Winterthur gewann 2:0. Das zweite Tor war ein Weitschuss, der aus irgendeinem Grund im Tornetz hängen blieb. Der Zürcher Torhüter Werner Schley war wütend auf seine Verteidiger und versuchte, den Ball aus dem Netz zu boxen. 

Das hat mir Eindruck gemacht und weil ich damals die Regeln noch nicht kannte, dachte ich für gut einen Monat, dass ein Goal nur dann zählt, wenn der Ball im Netz hängen bleibt.

 

Haben Sie später auch Spiele des FC Winterthur kommentiert?

Ja klar, aber das war kein Problem: Wenn ich ein Spiel kommentiere, bin ich Journalist, ich mache ja kein Fanradio. Aber natürlich hat es Spass gemacht, jenes Spiel zu kommentieren, das mich sowieso am meisten interessierte hat und zu dem ich auch am meisten wusste. Einmal konnte ich ein Cupspiel zwischen dem FC Winterthur und FC Tössfeld, einer Quartiermannschaft aus Winterthur, kommentieren. Das war sicher das Lokalhighlight meiner Karriere. 

 

Was fasziniert Sie am Fussball?

Fussball ist eine Konstante im Leben. Es kann passieren, was will – Heirat, Depressionen, Konkurse – die Fussball-Meisterschaft läuft weiter. Und gleichzeitig ist Fussball auch unberechenbar. Der Ball ist nie unter Kontrolle, es kann immer alles passieren. Wenn der FC Winterthur 50-mal gegen Bayern München spielen würde, ist es gut möglich, dass er einmal gewinnt. In anderen Sportarten ist das undenkbar: Der Schweizermeister im 100m-Sprint wird den Weltmeister auch nach 50 Versuchen nicht besiegen. 

 

Fussball als unberechenbare Lebenskonstante?

Genau! Und das Schöne ist – alle können mitreden. Die Verwandlung vom hoffnungslosen Fussballlaien zum Fussballexperten geht meiner Erfahrung nach etwa drei Wochen. Das konnte ich bei einigen Klubpräsidenten beobachten, die ihre Position nur ihrem Geld zu verdanken hatten. Die haben dann zu Beginn gesagt: «Von Fussball habe ich keine Ahnung, aber ich weiss, wie man eine Firma führt.» Drei Wochen später sassen dieselben Herren auf der Tribüne und riefen dem Aussenverteidiger zu, er solle nicht so offensiv stehen. (lacht)

 

Aber hat es Sie als Sportkommentator nie genervt, dass während einer Fussballweltmeisterschaft die halbe Schweiz zu FussballexpertInnen mutiert?

Nein, sich über den Kommentator aufzuregen gehört zum Lustgewinn des Fernsehschauens, das ist Teil des Vergnügens. Aber ich bin froh, dass soziale Medien erst am Ende meiner Karriere relevant geworden sind. Ich konnte es mir noch leisten, diese Kritik zu ignorieren. Das hat sich für meine jüngeren KollegInnen geändert.

 

Apropos Veränderung: Wie hat sich der Profifussball während ihrer Zeit als Sportreporter verändert?

Die Spieler sind natürlich viel besser geworden. Sie sind heute athletischer, schneller. Noch vor zehn Jahren war ein langer Seitenwechsel eine mittlere Sensation. Ein Drittel der Bälle ist überhaupt angekommen und diesen einen hat dann der Spieler, der den Ball hätte stoppen müssen, verplempert. Heute siehst du in jedem Challenge-League-Spiel zehn solcher Pässe und fast alle erreichen ihr Ziel. Und während früher nur die ‹Techniker› beidfüssig einen Pass spielen konnten, ist das heute fast Standard. 

 

Der Sport ist heute also schneller, athletischer, technisch versierter geworden. Gleichzeitig gibt es eine Entwicklung zu milliardenschweren Superklubs, die den ganzen Sport dominieren: FC Bayern München, Manchester City, Paris Saint Germain…

Ja, es hat eine totale Kommerzialisierung des Fussballs gegeben. Fussball ist heute Kapitalismus in Reinform, wie ihn Marx beschrieben hat. In der Gesellschaft haben wir die unsinnigsten Blüten des Kapitalismus zumindest ein bisschen eingedämmt, aber im Fußball kann er ungebremst walten. Von den hundert besten Fussballern der Welt spielen immer nur rund 70, währenddem 30 auf der Ersatzbank versauern. Die grössten Klubs der Welt hamstern alle guten Spieler, um dann, wenn der Superstar mal ausfällt, einen qualitativ  ähnlichen Spieler auf der Ersatzbank einwechseln zu können. Das finde ich sehr schade.

 

Werden Vereine wie der FC Winterthur, die noch stark lokal verankert sind, immer mehr zur Ausnahmeerscheinung?

Die Tendenz zur Vereinheitlichung der Fussballkultur gibt es in allen Ländern. Als ich noch kommentiert habe, galt das alte Wembley in London noch als Fussballtempel schlechthin. Das neue Wembley sieht jetzt einfach aus wie jedes andere Stadion. 

In der Challenge-League gibt es neben dem FC Winterthur noch einige Klubs, die sehr stark lokal verwurzelt sind, noch einen eigenen Charakter haben, etwa der FC Schaffhausen oder der FC Thun. In der Super-League wären sie aber bereits heute Ausnahmeerscheinungen. 

 

Falls der FCW tatsächlich aufsteigen sollte: Was würde das für Winterthur bedeuten?

In den letzten Jahren hat die Bedeutung des FCW in der Stadt deutlich zugenommen. Das hat auch mit der Bevölkerungsexplosion zu tun. Jahrzehnte lang hatte die Stadt eine Bevölkerung um etwa 80 000 Leute. Inzwischen sind es schon fast 120 000. 

Heute gehört es zum guten Ton, Spiele des FCW zu schauen, nicht nur für die Hardcore-Fussballfans, sondern auch für Anwälte, Künstlerinnen, Musiker. Die Spiele des FC Winterthur sind wieder zu einem Event geworden, wie früher, als ich noch jung war und es noch kein anderes Freizeitangebot gab. 

Die Frage ist jetzt natürlich: Nimmt die Euphorie für den FCW mit einem Aufstieg zu oder hat es die gegenteilige Wirkung, weil das Team dann womöglich jedes Wochenende verliert? Und was passiert mit der ganzen Folklore, die den FC Winterthur so speziell macht: die Siupkurve, der Salon Erika, die Bierkurve? 

Ein Aufstieg wäre historisch, aber birgt auch die Gefahr, dass das lokale Element geschwächt wird. 

 

Zum Schluss nochmals ein bisschen Mathematik: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass der FC Winterthur direkt aufsteigt?

Zehn Prozent. Dafür müsste Aarau gegen Vaduz verlieren, aber in dieser Saison ist nichts unmöglich. Ähnlich gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass Winterthur auf Platz drei rutscht und leer ausgeht. 

 

Das bedeutet 80 Prozent Wahrscheinlichkeit für den Einzug in die Barrage?

Genau, und ich hoffe auf ein Derby gegen die Grasshoppers Zürich, die aktuell Platz 7 in der Super-League belegen. Die haben sicher nicht erwartet, dass sie noch um den Abstieg spielen müssen, und in einem Derby ist alles möglich.

 

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