Furcht

Ich habe eine grosse Furcht.

 

13 000 junge Menschen begaben sich letztes Jahr wegen psychischer Beschwerden insgesamt 20 000-mal in Spitalpflege. 17 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Es ist das erste Mal, dass damit mehr Spitaleinweisungen wegen psychischer Probleme als wegen Verletzungen zu zählen sind. Besonders betroffen sind Mädchen und junge Frauen. Von den 10- bis 24-jährigen mussten sich letztes Jahr 26 Prozent mehr stationär behandeln lassen. Also jede hundertste Frau dieser Altersgruppe. Eigentlich ist das Wahnsinn. 

 

Fachleute können nicht mit Sicherheit sagen, warum Mädchen und junge Frauen mehr leiden als Buben und junge Männer. Während der Pandemie, der Isolation, hätten Mädchen häufiger Zeit in sozialen Netzwerken verbracht als Jungs. Eine Psychiaterin meint dazu, dass Mädchen den sozialen Vergleich suchen und sich dann häufig unzulänglich fühlen, wenn sie den professionell aufbereiteten Inhalten von Influencerinnen ausgesetzt sind. Jungs hätten sich während der Pandemie mehr aufs Gamen verlegt. Es sei aber vermutlich mit einer verzögerten Zunahme auch bei den Buben zu rechnen, man nehme an, dass diese sich einfach länger nicht melden. 

 

Sicher ist damit also nur eines: Es war schon vor der Pandemie eine Zunahme der psychischen Erkrankungen Jugendlicher generell feststellbar.

 

Die Zunahme hat nun nichts damit zu tun, dass Kinder und Jugendliche heutzutage einfach anfälliger sind. Nicht sie haben sich verändert, sondern alles um sie herum. Die Welt, in der junge Menschen heute leben, fordert neue, nie dagewesene Anpassungsleistungen. Das führt zu einem immensen Stress. Die Mädchen und Jungs setzen sich in Schule und Beruf und auch privat selbst stark unter Druck. Druck und Stress in diesem Ausmass wiederum können eine Depression auslösen. Psychiater fordern mehr Prävention, denn der Umgang mit Belastung könne erlernt werden, Politikerinnen und Politiker mehr Therapieplätze, denn der Anstieg der Erkrankungen hat nun zu einem Engpass geführt und viele Jugendliche können erst viel zu spät Hilfe erhalten. Ich unterstütze beide Forderungen. Aber eine fehlt mir. 

 

Ist es unabänderbar, dass junge Menschen heute mehr Stress haben müssen? Ist es tatsächlich so, dass sie sich selbst zu stark unter Druck setzen oder sind wir es, die den Druck ausüben? Es ist natürlich eine blöde rhetorische Frage. Prävention und Therapieplätze sind wichtig, aber weniger Stress ist eine Massnahme, die die Ursache bekämpft.  

 

Wir können unseren Kindern die Welt nicht schönreden, die Pandemie, die Klimakrise, Krieg, sie alle sind da. Aber wir könnten anderswo ganz gehörig eingreifen. Zu grosse Schulklassen sind für viele Kinder eine Überforderung, zu wenig oder ständig wechselnde Lehrkräfte ebenso. Die Abschaffung der Hausaufgaben kann den Stress nach der Schule und die ungleichen Voraussetzungen daheim überwinden. Prüfungsfreie Übertritte in Gymnasien machen die sechste Schulklasse nicht mehr länger zur Qual. Die Selbstoptimierung, die wir als Erwachsene vorleben, und die Ausbeutung, die wir für uns selbst und andere im Arbeitsleben zulassen, sind zudem äusserst toxische Vorbilder. Die Gesellschaft, die Mädchen noch immer nach ihrem Äusseren beurteilt und ihre Anpassungsfähigkeit belohnt, anstatt sie zu mehr Widerstand zu ermutigen, trägt das ihre dazu bei. 

 

Es ist meine grosse Furcht, dass wir uns nicht trauen, auch diese Ursachen zu bekämpfen. Und es damit zulassen, dass noch mehr junge Menschen krank werden müssen.

 

Spenden

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte. Jetzt spenden!

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.