«Für Partizipation gibt es soviele Rezepte wie für die beste Pizza»

Eine Offensive zur Stärkung der Partizipation in der Stadtentwicklung? Braucht es die – und falls ja, warum gerade jetzt? SP-Gemeinderätin Christine Seidler als Initiantin einer Motion und eines Postulats zum Thema erläutert die Idee dahinter im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Sie reichten letzte Woche zusammen mit Ihrem Fraktionskollegen Jean-Daniel Strub eine Motion ein, die eine «kreditschaffende Weisung zur Stärkung der Partizipation in der Stadtentwicklung» verlangt. Bereits vor den Sommerferien brachten Sie zusammen mit Mario Mariani von der CVP ein Postulat zum gleichen Thema: Was bezwecken Sie damit?

Christine Seidler: Beim Thema «Partizipation» geht es in erster Linie darum, Menschen zu «Beteiligten der Stadt» zu machen. Dass dies in der SP-Fraktion wie auch bei der CVP auf offene Ohren gestossen ist, dürfte damit zu tun haben, dass Partizipation politisch und fachlich das Gebot der Stunde ist.

 

Weshalb ist das so?

Nehmen wir das Raumplanungsgesetz: Hier hat in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Früher erklärten die Gemeinden dem Kanton, was sie sich wünschten und vor allem, wo sie Bauland einzonen wollten. In den allermeisten Fällen erfüllte ihnen der Kanton den Wunsch und segnete die Änderungen ab. Heute sagt der Kanton den Gemeinden, ihr dürft nicht mehr wachsen, ihr müsst nach Innen verdichten. Der Stadt Zürich teilte der Kanton mit, sie müsse sich darauf einstellen, durch Verdichten Platz für 80 000 zusätzliche EinwohnerInnen zu schaffen.

 

Und was hat das mit Partizipation zu tun?

Es leben heute viel mehr Leute in Stadt und Kanton Zürich als noch vor zehn, zwanzig Jahren, und die soziodemografische Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich ebenfalls geändert. Damit einhergegangen ist auch ein Wertewandel: Die Leute wollen beispielsweise nicht mehr alles kaufen, sondern Gebrauchsgegenstände und Fahrzeuge teilen. Auch beim Wohn- und Lebensraum ist nicht Besitz gefragt, sondern die Verfügbarkeit von Räumen. Vor allem aber wollen sich immer mehr Menschen in ihrem persönlichen Umfeld, im Quartier und in der Stadt einbringen und engagieren. Sie haben gute Ideen und klare Zielvorstellungen – und sie finden es gar nicht toll, wenn über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, schon gar nicht, wenn es um zentrale Themen wie die Stadtentwicklung geht.

 

Speziell neu und akut scheint mir diese Entwicklung aber nicht zu sein.

Die Individualisierung der Gesellschaft schreitet seit 20 Jahren voran. Die unterdessen so wichtig gewordene Verdichtung nach Innen beginnt langsam, aber sicher, den Leuten weh zu tun: Verdichtung ohne Eingriffe ist nicht möglich, aber eine Veränderung des Status quo wünschen die meisten auch nicht. Wir müssen zusammenrücken, doch der Staat kann nicht einfach über die Leute bestimmen. Sie wollen ein Wörtchen mitreden. Die Stadtentwicklung praktisch nur von der Verwaltung aus zu planen, liegt nicht mehr drin.

 

Was ist denn heutzutage angesagt?

Bisher verlief die Stadtentwicklung von oben, von Exekutive, Legislative und Verwaltung, nach unten zu den EinwohnerInnen, die dazu wenig zu sagen hatten. In den letzten Jahren entstanden parallel zu diesem Vorgang Bewegungen von BürgerInnen, die sich für die Entwicklung ihrer direkten Umgebung und ihrer Quartiere einsetzten. Am Ursprung der Siedlung Kalkbreite etwa stand eine Initiative für Urban Gardening; die InitiantInnen stellten die ersten Pflanzkübel auf öffentlichem Grund der Stadt Zürich auf dem Gelände des Tramdepots Kalkbreite ab – und lancierten damit eine Entwicklung von unten nach oben. Nun gilt es, den nächsten Schritt zu gehen, sprich, diese gegenläufigen Entwicklungen zusammenzuführen.

 

Den Stadt- und Gemeinderat braucht es bald nicht mehr?

Es braucht selbstverständlich nach wie vor Exekutive und Legislative, die Strukturen und Rahmenbedingungen festlegen, und sowohl zum Raumplanungsgesetz als auch zur Bau- und Zonenordnung müssen auch in Zukunft die Stimmberechtigten das letzte Wort haben. Worum es uns in unseren Vorstössen geht, ist der Spielraum, den es nebst allen nicht-verhandelbaren Strukturen stets gibt. Die Zukunft der Stadtentwicklung besteht denn auch darin, dass Strukturen zur Verfügung gestellt werden, damit die Menschen vor Ort sie bespielen können: NutzerInnen werden zu ProduzentInnen des Raums. Die Leute werden damit nicht nur gnädigerweise von oben herab ‹einbezogen›, sondern sie können sich selbst einbringen, sie können ein Vorhaben mittragen, und sie können schliesslich vom Mehrwert profitieren, der so entsteht: Wenn eine Nachbarschaft beispielsweise einen Park nach eigenen Wünschen und Vorstellungen mitgestalten kann, dann halten sich die Leute nicht nur gern und regelmässig darin auf, sondern sie tragen ihm auch Sorge – und profitieren foglich von einem gepflegten Ort, in dem nicht ständig Abfall herumliegt oder regelmässig das Mobiliar demoliert wird.

 

Das tönt gut – in der Theorie. Aber woher wissen Sie, dass es auch tatsächlich funktioniert?

Wer in der Stadt lebt, sieht sich mit einer Flut von Informationen und Möglichkeiten konfrontiert. Dadurch steigen das Bedürfnis, aber auch die Bereitschaft, Gleichgesinnte kennenzulernen, sich zu vernetzen und an der Gestaltung seines Lebensraums zu partizipieren. Nehmen wir nochmals das Beispiel Kalkbreite – oder auch die Siedlung «Mehr als Wohnen» auf dem Hunzikerareal: Da haben viele Leute zusammen eine Vision gehabt und sich dafür engagiert, dass sie Wirklichkeit werden konnte.

 

Als es vor einigen Jahren um die Neugestaltung des Idaplatzes im Kreis 3 ging, setzte es lautstarken Protest der AnwohnerInnen ab. Daraufhin veranstaltete die Stadt einen sogenannten partizipativen Prozess – zu dem gerade mal die wenigen AnwohnerInnen eingeladen waren, deren Haustür sich direkt zum Platz hin öffnet. Nach Workshops etc. durften sie dann immerhin entscheiden, dass der Platz gekiest und nicht betoniert wurde…

Solche Pseudoveranstaltungen meine ich natürlich nicht. Die öffentlichen Mitwirkungsverfahren, welche die Stadt bis anhin organisiert hat, waren, mit wenigen Ausnahmen, keine echten partizipativen Prozesse, weil es dafür schlicht zu wenig mitzubestimmen gab. Ist praktisch kein Spielraum vorhanden, dann muss man auch niemanden dazu einladen, zu ‹partizipieren›; damit stiehlt man den Leuten bloss die Zeit.

 

Mal angenommen, es gibt etwas zu entscheiden: Wie findet man dann heraus, wer mitmachen – und folglich eingeladen werden – möchte?

Die ‹richtigen› Leute für einen partizipativen Prozess zu finden, ist stets eine Herausforderung. Beim «Project urbain», das der Bund finanzierte und in dessen Rahmen in verschiedenen Städten und Dörfern Mitwirkungsprozesse stattfanden, wurde nicht selten im betroffenen Quartier selbst aktiv nach Leuten gesucht, die sich dafür interessieren könnten. Will heissen, man hat effektiv Klinken geputzt, ist von Tür zu Tür gegangen und hat mit den Menschen gesprochen und sie fürs Projekt zu begeistern versucht.

 

Und woher weiss man, in wie kleinem oder grossem Umkreis man Klinken putzen muss? Manches interessiert tatsächlich nur die direktesten AnwohnerInnen, anderes wirft weitherum Wellen.

Das kommt natürlich auf die Fragestellung an. So schwierig, wie man meinen könnte, ist es jedoch nicht – so man die vorhandenen Hilfsmittel richtig nutzt. In der Schweiz haben wir das Glück, über alles Mögliche statistische Daten zu haben, die zudem meist auch noch als übersichtliche Karten oder Grafiken aufbereitet greifbar sind. Zum Zürcher Langstrassenquartier beispielsweise gibt es eine Karte, auf der eingezeichnet ist, wo sich der verbliebene Rest des Rotlichtmilieus befindet, wo die Nachfahren der einst zahlreich vertretenen ItalienerInnen leben und an welche Strassen in den letzten 30, 40 Jahren hauptsächlich Portugiesen und Thailänderinnen gezogen sind. Solche Daten kann man zur Vorbereitung partizipativer Prozesse nutzen.

 

Mit dem Finden der ‹richtigen Leute› allein ist es aber kaum getan.

Das ist so: Kürzlich gab es Workshops zum Neugass-Areal, das die SBB überbauen wollen. Dazu wurden verschiedene Bevölkerungsgruppen eingeladen, auch im Internet war alles Wissenswerte abrufbar, und im ersten Moment dachte ich: Wow, die habens tatsächlich begriffen… Bis ich dann als Teilnehmerin rasch enttäuscht wurde: Der Eindruck, dass die SBB trotz allem einfach das machen werden, was sie schon immer vorhatten, liess sich nicht abschütteln.

 

Wer Partizipation will, muss also damit rechnen, von vorne anfangen zu müssen?

Der wichtigste Punkt ist, dass man ehrlich ist: Partizipation ist nur dann möglich, wenn eine Planung ergebnisoffen geführt wird. Natürlich muss das Ziel definiert sein, das erreicht werden soll, und es muss allen TeilnehmerInnen klar sein, was auf dem Weg dorthin verhandelbar ist und was nicht. Wenn dann im Rahmen des partizipativen Prozesses etwas herauskommt, was nicht dem entspricht, was sich ‹die da oben› ursprünglich gedacht hatten, dann ist das so – und soll möglichst auch so umgesetzt werden. Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass es nicht darum geht, zu bestimmen, sondern darum, zu ermöglichen.

 

Das ist das Rezept für Partizipation?

Das sind die Grundprinzipien, die es einzuhalten gilt. Ansonsten gibt es so viele Rezepte für Partizipation, wie es Rezepte für die beste Pizza Napoli gibt (lacht). Wenn ich in meinem Beruf als Raumplanungsingenieurin und Professorin für Urbanismus und Mobilität partizipative Prozesse aufgleise, überlege ich mir im Vorfeld jeweils, was verschiedene AkteurInnen wohl von einem Projekt halten würden: Was würde Dr. No meinen, also der Bürger, der grundsätzlich erst mal Nein zu sagen pflegt? Was der Bauer, der prinzipiell nur frisst, was er kennt? Was würden der Pfarrer und die Lehrerin sagen, was die kreative Macherin, was die gewiefte Kommunikatorin? Als nächstes folgen die Konzeptanalyse und die Zielformulierung. In der Arbeit mit den TeilnehmerInnen gilt das Augenmerk sodann sowohl dem Aussen- wie dem Innenblick aufs Projekt, gemeinsam werden die Schwerpunkte festgelegt, und schliesslich gilt es noch, eine gemeinsame Sprache zu finden, bevor eine grössere Gruppe informiert und schliesslich die Umsetzung angepackt werden kann. Ein Beispiel: Der partizipative Prozess auf dem Weg zur Revision ihrer Bau- und Zonenordnung, den ich im Auftrag einer mittelgrossen Gemeinde leitete, dauerte eineinhalb Jahre – und wurde an der Urne mit 80 Prozent Ja gutgeheissen.

 

Partizipative Prozesse können also funktionieren und sich gar lohnen: Warum sind sie dann nicht längst Standard?

Die «Projects urbains» erhielten eine Anstossfinanzierung vom Bund. Als sie auslief, gingen auch etliche der Projekte wieder ein – die Gemeinden konnten sie sich schlicht nicht leisten. Partizipation ist sinnvoll und kann dem Gemeinwesen auf längere Sicht gar Ausgaben ersparen, aber zuerst einmal kostet sie Geld. Partizipative Prozesse sind zeitintensiv, sie erfordern die Arbeit von Fachleuten, kurz: Sie sind aufwendig. Aus diesem Grund verlangen Jean-Daniel Strub und ich in unserer Motion eine kreditschaffende Weisung. Ideal wäre es, etwa 0,1 Prozent des städtischen Budgets von acht Mia. Franken für partizipative Prozesse zur Seite zu legen und diesen Betrag sodann auf die Quartiere aufzuteilen, damit diese vor Ort partizipative Prozesse, aber auch Ideenwettbewerbe oder ähnliches durchführen könnten. Zuerst einmal muss der Gemeinderat die Motion nun aber an den Stadtrat überweisen und der Stadtrat sie beantworten; dann sehen wir weiter.

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