«Für Integration braucht es mehr als nur Goodwill»

Markus Truniger, Fachmann für interkulturelle Pädagogik im Volksschulamt, hat über 40 Jahre für die Zürcher Volksschule gearbeitet – nun geht er in Pension. Über sein Engagement und neue Herausforderungen berichtet er im Gespräch mit Julian Büchler.

 

In jungen Jahren setzten Sie sich als Lehrer besonders für die Mitsprache ausländischer Eltern im Schulbetrieb ein. Dies ist angesichts der Migration heute erneut ein Thema, Sie haben diesen Punkt bereits früh erkannt. Woher rührte ihr damaliges Engagement?

Markus Truniger: Dies ist durch den Kontakt zu den Betroffenen entstanden. Als kleine LehrerInnengruppe im Schulkreis Zürich-Limmattal wussten wir von Eltern aus Italien, Griechenland und Spanien und von deren Organisationen, was deren Wünsche an die Schulen waren. In diesen Gesprächen war eine der Forderungen mehr Mitspracherecht in schulischen Fragen. Diesen Ball wollten wir aufnehmen und haben uns unter anderem mit der Schulpflege in Verbindung gesetzt, um nach möglichen Lösungen zu suchen. Für uns war klar, dass die ganze Schule von einem besseren Austausch mit allen Eltern, egal ob stimm- und wahlberechtigt oder nicht, profitiert. Nach einigen kritischen Fragen konnten wir die Schulpflege ins Boot holen und dieses Anliegen den Eltern erfüllen. Es handelte sich jedoch immer um ein konsultatives Mitspracherecht, also um ein beschränktes. Dies war sicherlich nicht das Ende der Fahnenstange in Sachen Partizipation. Die Frage nach einem generellen, politischen Mitbestimmungsrecht durch ein kommunales Stimm- und Wahlrecht scheiterte aber mehrmals an der Urne.

 

Wie sah das Mitspracherecht denn konkret aus?

Vertretungen der ausländischen Eltern wirkten in einer konsultativen Kommission der Schulpflege mit, die es übrigens seit den 1980er-Jahren bis heute noch gibt.

 

Welche zentralen Forderungen kristallisierten sich seitens der ausländischen Eltern heraus?

Der Anspruch war, der Schule die Bedürfnisse und Anliegen der ausländischen Eltern und ihrer Kinder zu unterbreiten. Dazu gehörten beispielsweise die «Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur», aber auch die Abschaffung von Sonderklassen. Dass es in diesen Belangen Fortschritte in Gemeinden und im Kanton gab, kam durch den Druck seitens der Eltern ins Rollen. Die Frage der gleichen Chancen in der Selektion nach der Primarstufe war eine weitere zentrale Sorge der ausländischen Eltern. In der Selektion bzw. Aufteilung der SchülerInnen auf der Sekundarstufe in verschiedene Niveaus zeigte sich, dass die unteren Niveaus überproportional mit Kindern von fremdsprachigen Eltern besetzt waren und sind.

Früher gab es vier Unterteilungen in Oberschule, Realschule, Sekundarschule und das Gymnasium. Im Schulkreis Limmattal hat auch die Mitsprache der fremdsprachigen Eltern dazu beigetragen, dass es heute noch Sekundarschule A und B und das Gymnasium gibt. Damals haben auch die Sonderklassen eine wichtige Rolle gespielt, die früher regelrechte Ausländerklassen waren. Diese zugunsten von mehr Integration aufzulösen, war ein erfolgreicher Schritt, zu dem ein Mehr an Mitsprache der ausländischen Eltern beitrug. Eine weitere Aufgabe der konsultativen Kommission der Schulpflege war ihr Engagement für die Eltern selbst. Es wurden Informationsanlässe für die Eltern veranstaltet, bei denen Übersetzer anwesend waren. Auch diese Vielsprachigkeit der Elterninformationsanlässe ist bis heute geblieben. Mitglieder der Kommission übernahmen damals auch Aufgaben des sogenannten interkulturellen Dolmetschens bei wichtigen Gesprächen zwischen Lehrpersonen und Eltern. Dieser Übersetzungsdienst ist heute professionalisiert. Es gibt heute die Vermittlungszentrale «Medios» der AOZ, die ÜbersetzerInnen vermittelt, wenn die Eltern zu wenig Deutsch können.

 

Welche Motivation gab es seitens der Volksschule, auf die Erwartungen und Forderungen der eingewanderten Eltern einzugehen?

Die Forderungen fanden grundsätzlich sicherlich eher Gehör, weil im Schulkreis Zürich-Limmattal Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit gesellschaftlich wie auch politisch tiefer verankert waren und immer noch sind, als anderenorts. Die Schulbehörde erkannte in vielen der Forderungen das Verbesserungspotenzial und war gewillt, dies zu nutzen. Die Forderungen wurden nicht als Kritik abgewiesen, sondern als Ressource und Engagement erkannt. Einige der Mitglieder aus den Kommissionen haben sich nach der Einbürgerung weiter engagiert und sich beispielsweise in der Schulpflege oder im Gemeinderat eingebracht.  Neben der sozialen Gerechtigkeit spielten aber auch Überlegungen zum Nutzen eine Rolle – man war sich einig, dass der Schulbetrieb besser funktioniert, wenn er von allen getragen und unterstützt wird. Es gab aber auch Kritik – auch von Seiten der MigrantInnen, dass die Partizipationsmöglichkeiten der ausländischen Eltern zu wenig weit gingen.

 

Wie sieht es denn heute aus?

Die beratende Mitsprache gibt es heute in nahezu allen Schulkreisen der Stadt Zürich. Die Kommissionen arbeiten heute tendenziell weniger auf schulpolitischer Ebene, sondern dienstleistungsorientiert. Seit dem revidierten Volksschulgesetz gibt in vielen Schulen Elternräte, wo alle Eltern, unabhängig ihrer Staatsangehörigkeit, mitwirken können. Das ist eine gute neue Chance der Mitsprache der Eltern. Hier müsste man aber wohl noch stärker darauf achten, dass die Zusammensetzung des Elternrats ein gutes Abbild der sprachlich gemischten Elternschaft ergibt. Auf kantonaler Ebene arbeitet mit dem «Forum Migration und Integration», einer beratenden Kommission des Bildungsrats, ein ähnliches Mitsprachegremium, in welchem die grössten zehn Sprachgruppen repräsentiert sind. In den letzten Jahren war es eine meiner Aufgaben, die Geschäftsstelle dieser Kommission zu führen.

 

Ein weiteres Anliegen, das vielen Eltern wichtig ist und war ist, dass die Kinder die Kenntnisse in der eigenen Muttersprache sowie der Herkunftskultur erweitern können. Wie Sie bereits angesprochen haben, gab es schon früher die Möglichkeit dazu, diese Kurse hatten jedoch keinen allzu guten Ruf. An welche Bilder von damals erinnern Sie sich?

Diese Kurse waren auf den Goodwill der lokalen Schulbehörden angewiesen, dass ihnen beispielsweise Räume zur Verfügung gestellt wurden. Es gab kaum eine institutionelle Zusammenarbeit, und die Skepsis war auch hier im Schulkreis Zürich-Limmattal gross. Von den Lehrkräften kam oft der Einwand, dass die eher schwächeren Schülerinnen und Schüler noch Zusatzstunden aufgebürdet bekämen. Ich habe dazu einmal ein berührendes Gespräch mit einem griechischen Vater geführt, der mir sagte, dass ihn das Wort Belastung schmerze, denn es gehe schliesslich um ihre eigene Sprache und Identität. Die heute verbreitete Erkenntnis, dass Zweisprachigkeit ein Vorteil ist, war damals wenig anzutreffen. Da hat sich im Vergleich zu damals einiges bewegt. Dieser Unterricht wird heute in einer Kooperation mit den Herkunftsstaaten und Elternvereinen innerhalb der Volksschule angeboten, jedoch sind die Kurse nicht mit anderen Fächern des Lehrplans gleichgestellt. Die Idealvorstellung einer modernen, international vernetzten Stadt wäre, dass die Herkunftssprachen in der Schule als reguläres Wahlfach von den Kindern erlernt werden könnten. Hier möchte ich noch erwähnen, dass die Bezeichnung «heimatliche» Sprache  und Kultur veraltet ist, ich spreche lieber von Herkunftssprache, da Kinder der zweiten Generation und aus zweisprachigen Familien alle in Zürich heimisch sind und gleichzeitig Beziehungen zur Herkunft ihrer Eltern haben.

 

Welche Schwierigkeiten gab es denn innerhalb der Kurse zu überwinden?

Die Frage nach der Qualität des Unterrichts ist hier wohl die wichtigste. Viele Lehrkräfte kommen von verschiedenen pädagogischen Traditionen, die sich bezüglich Unterrichtsmethoden stark von unserer Volksschule unterscheiden. Kinder können Mühe haben, wenn sie sich mit den ihnen unbekannten Methoden konfrontiert sehen. Dazu kommt, dass in der öffentlichen Volksschule sichergestellt werden muss, dass der Unterricht politisch und religiös neutral ist. Die Kurse in Schwedisch, Finnisch oder Niederländisch sind sehr nahe am Unterricht der Volksschule, während sich Kurse von neueren Einwanderergruppen wie arabischen oder eritreischen sich noch annähern müssen. Wichtig ist es auch, dass die Kinder in diesen Kursen lernen, dass sie unterschiedliche Lernwelten und kulturelle Zugehörigkeiten miteinander verbinden. Kinder können so lernen, sich mit zwei (oder mehr) Sprachen und in unterschiedlichen kulturellen Bezügen zu bewegen.

 

Das Meisterstück von Ihnen und Ihrem Team ist sicherlich das Programm «Qualität in multikulturellen Schulen» QUIMS. Kurz zusammengefasst, um was geht es?

Es geht um Schulen, die einen sehr hohen Anteil an Migrationskindern aufweisen. Dies stellt die ganze Schule vor verschiedenste Herausforderungen, um ein gutes Leitungsniveau und gute Chancen in den Schullaufbahnen für alle Kinder zu gewährleisten. Auch die Lehrerinnen und Lehrer sprechen von höheren Anforderungen als anderswo. In den 1990er-Jahren kam in stark betroffenen Gemeinden die politische Debatte auf, dass solche Schulen überlastet seien und eine neue Lösung nötig sei. Es gab den Vorschlag im Kantonsrat, dass ausländische Kinder in separaten Klassen eingeschult werden sollen, bis sie genug Deutsch können und in eine Regelklasse aufgenommen werden. Mit dem Projekt QUIMS setzte der Kanton aber auf eine andere Strategie: Die betroffenen Schulen erhalten zusätzliche finanzielle und fachliche Unterstützung. Zugleich arbeiten die beteiligten Schulen daran, ihre Konzepte in der Sprachförderung und in der Zusammenarbeit mit den Eltern so anzupassen, dass sie der gemischten Schüler- und Elternschaft gerecht werden. Es geht also um eine Doppelidee – Unterstützung auf der einen und Entwicklung des Schulangebotes auf der anderen Seite.

 

Was zeichnet QUIMS denn aus?

Zusätzliche Ressourcen – für kleinere Klassen, für ausreichenden Unterricht in Deutsch als Zweitsprache, für Projekte der Lese- und Schreibförderung und der Zusammenarbeit mit den Eltern – sind nötig. Ebenso wichtig aber ist die fachliche Entwicklung. Die erste Herausforderung ist die Sprache. Alltagsdeutsch reicht nicht, um die Chancengleichheit zu erreichen. Viele Kinder scheitern im normalen Unterricht nicht an ihrer Intelligenz, sondern haben Mühe, den Unterricht sprachlich zu verstehen. Hier sind ergänzende Lektionen in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) nötig. In den letzten Jahren haben QUIMS-Schulen viel daran gearbeitet, gute Lese- und Schreibkompetenzen aufzubauen, und zwar so, dass SchülerInnen auf verschiedenen Sprachniveaus ‹abgeholt› und gefördert werden. QUIMS beinhaltet aber auch Massnahmen, die das soziale Zusammenleben fördern. Es wäre naiv zu glauben, dass Vielfalt in den Schulen nur Bereicherung bedeutet. Konflikte gab es immer und wird es auch in Zukunft geben. QUIMS-Schulen arbeiten darum auch gezielt daran, den Kindern respektvolles Verhalten und gewaltfreies Konfliktlösen zu vermitteln

 

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen, die auf unser Schulsystem in Zukunft zukommen werden?

Dass die Schule immer mehr auf soziale, sprachliche und kulturelle Diversitäten eingehen muss, wird ein wichtiges Thema bleiben.  Denn Diversität ist ein Merkmal moderner Gesellschaften und Schulen. Das Thema, das ich in meiner Berufslaufbahn bearbeitet habe, ist noch lange nicht ausgeschöpft, und das Entwickeln eines guten schulischen Umgangs damit wird weitergehen. Als weitere Pendenz sehe ich einen Abbau der Selektion und eine bessere Durchlässigkeit der Sekundarstufe. Ziel ist es, den Kindern Zeit zu geben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, bevor sie auf unterschiedliche Schulzweige ‹kanalisiert› werden. Dass es nötig ist, in die frühe Bildung in Kitas und Spielgruppen zu investieren, findet heute breite Zustimmung. Hier mehr Finanzen einzusetzen, wird sich lohnen. Eine weitere Herausforderung scheint mir, die politische Bildung in unserem Land zu verstärken. Die Förderung von Sprache, Mathematik, Naturwissenschaften und Informatik ist wichtig, jedoch bleibt es eine zentrale Aufgabe der Volksschule, gerade angesichts der zunehmenden Diversität, die demokratische Bildung bzw. die Bildung für ein friedliches Zusammenleben nicht zu vernachlässigen.

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