Fünfzigjahresschritte

Die drei parallelen Ausstellungen in der Fotostiftung Schweiz und dem Fotomuseum Winterthur ermöglichen derzeit einen konzentrierten Blick auf die formale wie inhaltliche Entwicklung der künstlerischen Inszenierung der weiblichen (und der all-gender) Selbstermächtigung.

 

Einhundert Jahre und ein sich schliessender Kreis: Der Kampfgeist gegen traditionelle Normen, wie dies der Surrealismus in sämtlichen Künsten und in der Geisteshaltung verkörperte, ist zurück. Geäussert hat sich die Widerständigkeit 1928 in Virginia Woolfes Roman «Orlando», den davon inspirierten Fotografien von KünstlerInnen mit hauptsächlich 1980er-Jahrgängen, der Erfindung und Inszenierung des Selbst als Kunstfigur von Manon in den 1960er/70er-Jahren und letztlich den Collagen der nigerianisch-niederländischen Künstleraktivistin Firdo Orupabo im Detail natürlich verschieden. Die Stossrichtung ist in dieser konzentrierten Präsentationsform aber erkennbar die selbe.

 

Verklausuliert bis fadegrad

Virginia Woolfs unsterbliche Figur Orlando überdauert Jahrhunderte und wechselt mehrfach ihr Geschlecht. Sie scheitert wiederholt an den jeweiligen stereotypen also geschlechterspezifischen Verhaltensnormen. Die Idee eines utopischen Möglichkeitstraumes fernab klassischer Rollenvorstellungen ist in Literatur verpackt, noch nicht dermassen aufsässig angriffig, wie dies rund fünfzig Jahre später Manons Performances waren. Die Frau mit rasiertem Schädel liegt fein säuberlich drapiert da und wirkt mehr wie eine Schaufensterpuppe als ein Mensch. Der Subtext der Kommerzialisierung des Frauenkörpers springt einen regelrecht an. Sie hat subtilere und plakativere Werke geschaffen. Aus einer heutigen Perspektive sind sie alle leicht als Ergebnis einer Wut, eines Ausbrechens erkennbar, wie dies wiederum fünfzig Jahre später fast gar nicht mehr vorkommt. Die teils aufwändig inszenierten Fotografien von (mehrheitlich) heute jungen KünstlerInnen verflüchtigen sich in der Klarheit ihrer Aufforderung beinahe schon wieder wie Virginia Woolf hinter Codierungen, die genauso gut erspäht wie übersehen werden können. Die schiere Masse und das komplett freie Modulieren von Found Footage durch Frida Orupabo bildet einerseits das Bindeglied oder stellt das Dazwischen in auffallender Dringlichkeit her und kehrt rein technisch und deshalb auch kunsthistorisch leicht erkennbar mittels Collagen in die 1920er-Jahre zurück. Nach dem Grossen Krieg sollte das Zurück in ein Davor verhindert werden und der Möglichkeitsraum komplett uneingeschränkt allen in jeder Form zur Verfügung stehen.

 

Befreiung meint alle und alles

Der Vorteil an der Fotografie respektive der Kunst ist, dass die heutige teils nur schwer überhaupt verstehbare akademische Unterscheidung innerhalb der diversen Ebenen von Selbstermächtigung mehrheitlich wortlos transportieren zu können und sie damit in eine Verständlichkeit überführen, wofür Begrifflichkeiten letztlich nahezu überflüssig werden. Es wird deutlich, dass mit umfassend in der Tat sämtliche erdenklichen Ansprüche gemeint sind. Insofern ist die zeitgleiche Programmierung der beiden Häuser natürlich ein Affront, für alle, die das heute noch so sehen können. Für alle anderen aber eine Befreiung, weil die Kombination aller drei Schauen in jeder Hinsicht und auf vieldeutige Weise vermittelt: Es gibt kein Falsch. So wie ein Richtig keine normierte Begrenzung kennt. Im Idealfall schliesst sich die möglicherweise existierende Divergenz zwischen gelebtem Leben und der Vorstellung dessen, was allgemeingültig davon erwartet werden könnte. Das Optimum ist erst in dem Falle erreicht, dass selbst wenn die Möglichkeit bestünde, in ein Zurück in das Davor zu treten, diese Möglichkeit als gänzlich nicht zufriedenstellend also unvorstellbar abgelehnt werden kann, weil sich jedes Dasein in jeder aller erdenklichen Formen so zufriedenstellend und befriedigend und glückstrunken anfühlt und leben lässt, dass Paradiesvorstellungen wieder allein im Reich von Märchen und Glauben für Sehnsüchte sorgen. Diese drei Ausstellungen zeigen exemplarisch, dass diese Maxime heute genauso wie schon vor einhundert Jahren gilt und welche kreative Kraft für Kunst aus diesem Bewusstsein erwächst.

 

«Manon. Einst war sie ‹La dame au crâne rasé›», bis 29.5., Fotostiftung Schweiz, Winterthur. «Orlando – Nach einem Romand von Virginia Woolf» und «Frida Orupabo – ‹I have seen a million pictures of my face and still have no idea›», beide bis 29.5., Fotomuseum, Winterthur.

 

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