«Frontex ist in den letzten Jahren immer stärker in Verruf geraten»

Die Grenzagentur Frontex soll ausgebaut werden. Weshalb dieses Vorhaben auch im Schweizer Parlament debattiert wird und welches aus linker Sicht die Knackpunkte sind, erklärt SP-Ständerat Daniel Jositsch im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Als Erstrat hat der Ständerat letzte Woche über den Schweizer Beitrag an den Ausbau der europäischen Grenzagentur Frontex beraten. Mit «Frontex» verbindet man gemeinhin Einsätze im Mittelmeer oder an der griechischen Grenze: Warum geht Frontex die Schweiz überhaupt etwas an?

Daniel Jositsch: Die Schweiz ist assoziiertes Mitglied von Schengen/Dublin. Sie hat im Rahmen der bilateralen Verhandlungen II mit der EU die Abkommen für eine Teilnahme an der Zusammenarbeit von Schengen und Dublin abgeschlossen. Damit sagte sie auch Ja dazu, Weiterentwicklungen des gemeinsamen Rechts jeweils im Schweizer Recht umzusetzen.

 

Darum geht es also im vorliegenden Fall?

Ja, die EU hat die Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates über die europäische Grenz- und Küstenwache weiterentwickelt. Zur Übernahme und Umsetzung dieser geänderten Verordnung – und zu einer Änderung des Asylgesetzes, die dadurch notwendig wird –, hat der Bundesrat eine Botschaft erarbeitet. Der Ständerat hat sich letzte Woche damit befasst.

 

Frontex soll künftig mehr Personal und Material, sprich technische Ausrüstung, erhalten. Was bedeutet das konkret für die Schweiz?

Die Schweiz soll der Grenzwache mehr Personal zur Verfügung stellen. Das führt zu Mehrkosten. Die SP-Fraktion ist damit grundsätzlich nicht einverstanden, auch wenn uns bewusst ist, dass bei einer Ablehnung dieser Weiterentwicklung das ganze Schengener Abkommen dahinfallen würde.

 

Was genau stört Sie daran, dass die Schweiz bei der Weiterentwicklung eines Abkommens mitmacht, von dem sie auch profitiert, beispielsweise bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität?

Es geht, bildlich gesprochen, um die zwei Gesichter von Frontex: Einerseits dient das Schengener Informationssystem dazu, die grenzüberschreitende, organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Andererseits wird Frontex aber auch zur Abwehr von Migrantinnen und Migranten eingesetzt. Ja mehr noch: Frontex wird heutzutage gleichberechtigt zur Abwehr von Kriminalität wie von Migration eingesetzt. Dadurch wird die europäische Migrationspolitik an den Aussengrenzen in den Hintergrund gedrängt.

 

Frontex war doch von Anfang an auch eine «Abwehr-Agentur».

Aber nicht in diesem Ausmass! Frontex ist in den letzten Jahren immer stärker in Verruf geraten, nicht zuletzt wegen illegaler Push-Backs: Flüchtlinge werden an der EU-Aussengrenze vermehrt einfach wieder zurückbefördert, ohne dass sie die Gelegenheit erhalten, ein Asylgesuch zu stellen.

 

Dann ist wohl eher die Migrationspolitik der EU das Problem, nicht die Agentur Frontex?

Das Problem ist, dass die EU im Grunde genommen gar keine Migrationspolitik hat. Denn das, was zurzeit unter «EU-Migrationspolitik» läuft, ist dies: Die Burg Europa wird um eine Mauer ergänzt, die dazu dienen soll, Migration zu verhindern. Dafür als ‹neutrale Schweiz› mehr Geld und mehr Personal zur Verfügung zu stellen, geht für die Linke gar nicht. Es gibt zudem noch ein viel grösseres Problem.

 

Welches?

Als legaler Flüchtling nach Europa zu gelangen, ist praktisch unmöglich geworden. Es gibt lediglich einige wenige Ausnahmen wie etwa humanitäre Visa oder Resettlement-Programme. Ansonsten sind die Menschen auf Schlepper angewiesen, denen sie viel Geld bezahlen – nur um dann an der griechischen oder spanischen Grenze einfach zurückgeschickt zu werden. Diese Praxis torpediert im Übrigen auch die Unterscheidung in legale und illegale Mi­gration.

 

Wie meinen Sie das?

Legalisiert wird ein geflüchteter Mensch ja erst, wenn man ihm die Möglichkeit gibt, sich zu registrieren und ein Asylgesuch zu stellen. Schickt man hingegen alle geflüchteten Menschen einfach über die Grenze zurück, drängt man auch jene in die Illegalität, die sonst möglicherweise Asyl bekämen. Und, unvorstellbar: Bei der Überfahrt im Schlepperboot übers Mittelmeer ertrinken im Durchschnitt zehn Menschen – pro Tag! Deshalb prangern wir die nichtexistente europäische Migrationspolitik an, die durch Frontex mit-ermöglicht und geschützt wird. Deshalb wollen wir der Weiterentwicklung unseres Rechts nur zustimmen, wenn sie nicht bloss auf mehr Geld und Personal für Frontex hinausläuft, sondern auch humanitäre Kompensationsmassnahmen enthält.

 

Wie könnten solche Massnahmen aussehen?

Darüber läuft zurzeit noch eine SP-interne Diskussion. Klar ist aber dies: Wir brauchen keine Festung Europa und vor allem keine Mauer um Europa herum. Wenn schon, brauchen wir eine Wand, die mit Türen versehen ist, durch die man legal von der einen auf die andere Seite gelangen kann. Entsprechend haben wir im Ständerat ein erweitertes Resettlement-Programm vorgeschlagen. Im Rahmen solcher Programme dürfen Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten wie beispielsweise Syrien direkt in die Schweiz einreisen.

 

Warum muss das Resettlement-Programm erweitert werden?

Zurzeit kommen im Rahmen dieses Programms lediglich 1600 Flüchtlinge pro Jahr in die Schweiz. Wir haben eine Aufstockung auf 4000 Flüchtlinge pro Jahr vorgeschlagen. Die CVP hat mit einem Gegenvorschlag reagiert – sie forderte 2800 pro Jahr. In den Abstimmungen sind beide Vorschläge gescheitert, derjenige der CVP allerdings mit 22:21 Stimmen. Nach uns behandelt der Nationalrat die Vorlage, und angesichts dieses knappen Resultats besteht immerhin die Hoffnung, dass zumindest der Gegenvorschlag dort durchkommt.

 

Der Ständerat hat die Vorlage zur Frontex-Weiterentwicklung letzte Woche mit 30:14 Stimmen angenommen. SP und Grüne haben Nein gestimmt. Hoffnung auf Verbesserungen z.B. beim Resettlement-Programm gibt es nur, wenn der Nationalrat die Vorlage ablehnt, denn dann kommt es zum Differenzbereinigungsverfahren. Andernfalls ist die Vorlage angenommen und damit vom Tisch: Warum sollte der Nationalrat sie ablehnen?

Die SVP hat im Ständerat zwar zugestimmt, doch normalerweise ist sie gegen Frontex, wenn auch aus anderen Gründen als wir. Die letzten paar Schengen-Vorlagen jedenfalls hat die SVP im Nationalrat stets abgelehnt. Aber wenn der Nationalrat die Vorlage annimmt, haben wir Pech gehabt, daran gibt es nichts zu rütteln.

 

Zurück zur «Türe in der Wand»: Welche Vorschläge stehen diesbezüglich sonst noch zur Diskussion?

Am besten und logischsten wäre es sicher, das Botschaftsasyl wieder einzuführen.

 

Weshalb am logischsten?

Weil es der naheliegendste Gedanke ist: Müsste ich aus der Schweiz fliehen, würde ich mir als erstes überlegen, wohin ich gehen könnte. Als zweites würde ich die Botschaft jenes Landes aufsuchen und dort Asyl beantragen. Würde die Botschaft meinen Antrag positiv beurteilen, bekäme ich ein Visum und könnte ins gewünschte Land einreisen. Das Botschaftsasyl ist im Übrigen keine neue Erfindung, das gab es früher sowohl in der Schweiz als auch in europäischen Ländern. Ich habe deshalb im Ständerat eine Motion zur Wiedereinführung des Botschaftsasyls eingereicht.

 

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass das gelingt?

Klar wird von rechts als erster Grund dagegen angeführt werden, die anderen Länder hätten auch kein Botschaftsasyl. Dem widerspricht allerdings die Argumentation der Rechten beim Rahmenabkommen diametral: Sie betonten bekanntlich, wir seien eben autonom und liessen uns nicht dreinreden … Den potenziellen GegnerInnen möchte ich aber auch mitgeben, dass wegen des Botschaftsasyls niemand einfacher in die Schweiz kommen und/oder als Flüchtling anerkannt werden kann: Es geht ja nicht darum, via Botschaft einen privilegierten Zugang zu schaffen. Die Kriterien für eine Aufnahme bleiben unverändert. Falls die Mehrheit weiterhin bloss gleich viele Flüchtlinge aufnehmen will wie bisher, dann ist das prinzipiell genauso gut mit oder ohne Botschaftsasyl möglich.

 

Und was sagen Sie potenziellen BefürworterInnen?

Es macht einen grossen Unterschied, ob eine alleinerziehende Mutter mit ihren drei kleinen Kindern bei der Botschaft in ihrem Heimatland anklopfen und sich über ihre Chancen informieren kann, bei uns Asyl zu erhalten – oder ob sie sich für viel Geld Schleppern anvertrauen muss, um überhaupt erst nach Europa zu gelangen. Kurz: Möglicherweise würde die Wiedereinführung des Botschaftsasyls den Botschaften Mehrarbeit verursachen. Aber es würde Frauen und Kinder davor bewahren, die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer antreten zu müssen.

 

Das Botschaftsasyl wurde im Zuge einer Asylgesetzreform abgeschafft, die Volksabstimmung darüber fand am 9. Juni 2013 statt – und die SP unterstützte die Vorlage. Acht Jahre später will ausgerechnet ein Ständerat der SP das Gegenteil dessen erreichen, was die Partei damals unterstützte: Wie glaubwürdig ist das denn?

Ich kann die damalige Haltung der SP nicht ändern. Die Abstimmung fand vor der Krise von 2015 statt, es herrschten andere Verhältnisse. Erinnern Sie sich an die Foto von einem toten Flüchtlingskind am Strand in der Türkei? Soll ich mir beim Betrachten dieses Bildes sagen, tut mir leid, liebes Kind, aber wir haben seinerzeit das Botschaftsasyl abgeschafft, und nun müssen wir uns halt mit den Verhältnissen abfinden, denen du zum Opfer gefallen bist? Nein, das will ich nicht. Manchmal passieren Fehler, die muss man zugeben und versuchen, sie zu beheben. Deshalb setze ich mich für die Wiedereinführung des Botschaftsasyls ein.

 

Die Weiterentwicklung des Schengen-Abkommens bedingt auch Änderungen im schweizerischen Asylgesetz. So soll explizit eine «Verpflichtung der ausreisepflichtigen asylsuchenden Person zum Verlassen des Schengen-Raums sowie zur Weiterreise in den Herkunftsstaat oder einen Staat ausserhalb des Schengen-Raums» in die Wegweisungsverfügungen aufgenommen werden. Warum hat die SP-Fraktion dem zugestimmt?

Dieser Passus stand im Ständerat gar nicht zur Diskussion: Darüber, was die Agentur Frontex von Personen verlangen darf, die den Schengen-Raum verlassen müssen, bestimmt nicht das eidgenössische Parlament. Wir können lediglich flankierende Massnahmen beschliessen. Das haben wir getan, indem wir zusätzliche Änderungen hinzugefügt haben, die die Rechtsmittel der Asylsuchenden stärken und die Unterstützung bei Beschwerdeverfahren ausweiten.

 

Die geltende und auch die künftige Fron­tex-Verordnung sieht eine punktuelle Unterstellung unter den Europäischen Gerichtshof vor – er übernimmt eine Schiedsgerichtsfunktion bei Streitigkeiten. Diese Unterstellung gilt für Mitglieds- und assoziierte Staaten, weil sonst eine Rechtslücke bestünde. Da hat die SVP laut «fremde Richter!» geschrien, nehme ich an?

Nein, hat sie nicht … (lacht). Für die aktuelle Frontex-Weiterentwicklung ist dieser Passus nicht relevant, da er bereits in der bestehenden Verordnung festgehalten ist. Folglich haben wir ihn ebenfalls nicht diskutiert.

 

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass die Vorschläge der Linken gehört und umgesetzt werden?

Schwer zu sagen. Es ist auf jeden Fall bedauerlich, dass es bezüglich der Resettlement-Programme nicht einmal gelungen ist, den Gegenvorschlag für 2800 Flüchtlinge pro Jahr durchzubringen. Meiner Ansicht nach wären wir auch mit 4000 noch weit weg gewesen von einer Revolution … Persönlich ist mir wichtig festzuhalten, dass ich nicht gegen Schengen oder gegen Europa bin. Aber ich möchte mitgestalten können. Man muss sich das Verhältnis von Europa zu den einzelnen Mitgliedsstaaten eher so vorstellen wie jenes der Schweiz zu den einzelnen Kantonen. Ich kann die Europapolitik der EU – und im Übrigen auch diejenige der Schweiz – nicht so mittragen, wie sie sich zurzeit präsentiert. Migrationspolitisch haben wir uns die letzten 20, 30 Jahre stets in der Defensive befunden, es wird also höchste Zeit, in die Offensive zu gehen. Ein möglicher Hebel dazu ist das Schengener Abkommen: Es geht bei ‹Schengen› schliesslich nicht nur um Zollformalitäten und Warenflüsse, es geht um Menschen. Das rechtfertigt es auch, das Abkommen notfalls aufs Spiel zu setzen.

 

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