- Post Scriptum
Freiheit und Regulierung
An einem Kolloquium der Juristischen Fakultät der Universität Zürich zum Thema Strassenverkehrsrecht hörte ich kürzlich einige interessante Vorträge. Quasi der rote Faden des Abends war der Begriff der Freiheit. In seiner Einführung wies Thomas Gächter, der Dekan der Fakultät, auf die zunehmende «Regulierungsdichte» hin, auf den Umstand also, dass immer mehr Lebensbereiche durch Gesetze geregelt seien. Man könne dies gut finden oder kritisieren, meinte er, und man ahnte, dass er sich mehr auf der Kritikerseite sah. Heisst denn «mehr Regulierung» automatisch «weniger Freiheit»? (Regieanweisung: Ein Raunen geht durch die Leserschaft.)
Der ehemalige Bundesrichter Hans Wiprächtiger ärgerte sich darüber, dass die Fussgänger:innen im Strassenverkehr zu wenig geschützt seien – zu wenig geschützt vor Velofahrenden, notabene, und vor neuen Gefährten wie Elektrorollern, die mit hohem Tempo über Trottoirs und durch Fussgängerzonen blochen. Im Grundsatz sehe ich das auch so. Insbesondere die sogenannten «Begegnungszonen» funktionieren nicht: Zu Fuss wird man permanent gestresst von Velos, die kreuz und quer und teils viel zu schnell um einen kurven, und ist man auf dem Velo, kommt man vor lauter Herumkurven kaum vorwärts. Mehr Regulierung würde hier für beide Seiten auch mehr Freiheit bringen. Dazu bräuchte es aber bessere Radwege, und den Platz für diese müsste man an den meisten Orten den Autos wegnehmen. (Regieanweisung: anerkennender Beifall.) Möglicherweise würde Wiprächtiger dies unterstützen, ich hatte leider keine Gelegenheit, ihn zu fragen – aber vielleicht wäre es einen Gedanken wert, beim nächsten Abstimmungskampf für eine Velowegvorlage nicht den Nutzen für die Velofahrenden, sondern jenen für die Fussgänger:innen herauszustreichen.
Sehr interessant war der Vortrag mit dem Titel «Digitale Spuren von Verkehrsunfällen – verpfeift mich mein Auto?». Versicherungsexpertin Bettina Zahnd umriss kurz die Geschichte der Spurensuche nach Unfällen: Früher verrieten die Bremsspuren den Ermittelnden Verhalten und Geschwindigkeit der am Unfall beteiligten Fahrzeuge. Mit dem Antiblockiersystem ABS verschwanden die Bremsspuren, doch heute speichern moderne Autos so viele Daten, dass der Unfallhergang wieder gut rekonstruierbar ist. Sie würden sich wundern, was Ihr Auto alles über Sie weiss! Wenn Sie unschuldig in einen Unfall verwickelt werden, ist dies wohl hilfreich – haben Sie den Unfall aber selbst verursacht, dann probieren Sie am besten nicht, sich billig herauszureden! In der anschliessenden Diskussionsrunde warf jemand die Frage auf, ob dies nicht den «Nemo-tenetur»-Grundsatz verletze. Dieser Rechtsgrundsatz besagt, dass niemand zu Aussagen verpflichtet sei, die ihn selbst belasten. Muss ich also nach einem Unfall zulassen, dass die Datenspeicher meines Autos ausgewertet werden, oder kann ich das mit Verweis auf diesen Grundsatz verweigern? Gut, ich ja nicht, ich habe zum Glück wie Herr Wiprächtiger gar kein Auto! (Regieanweisung: frenetischer Jubel!) Aber irgendwann werden sich möglicherweise die Gerichte mit dieser Frage beschäftigen müssen, falls es bis dahin nicht die Parlamente tun. Letztere sind durch die Entwicklungen in der Autoindustrie sowieso gefordert: Ob man etwa in einem selbstfahrenden Auto ein Buch lesen darf oder doch die Hand am Lenkrad behalten muss, hat die Politik zu entscheiden – neue Gesetze entspringen also nicht zwingend einer «Regulierungswut», sondern sind meist Reaktionen auf neue Realitäten.
Gerade im Strassenverkehr zeigt sich exemplarisch, dass Freiheit und Regulierung nicht zwingend Gegensätze sind. Ohne Verkehrsregeln herrschte auf den Strassen ein derartiges Chaos, dass niemand mehr vorwärtskäme: hier entsteht Freiheit durch Regulierung. (Aber anderswo halt auch mal nicht: Gewiss haben Sie sich eben die Freiheit genommen, nicht jede Regieanweisung zu befolgen.)