Freier Wille oder Konditionierung

Technisch ist der humanoide Roboter von Thomas Melle und Rimini Protokoll nicht raffinierter als ein Lichtschaltpult, das sich programmieren lässt. Seine Form könnte irritieren, aber es ist der Stückinhalt, der verstört.

 

Die Verkabelung am Hinterkopf ist freigelegt und die Armbewegungen des technoiden Avatars von Thomas Melle sind rucklig und erzeugen Töne. Eine Verwechslung mit dem realen Menschen ist in der Bühnenshow «Unheimliches Tal» von Rimini Protokoll nicht ernsthaft zu befürchten. Zumal offen kommuniziert wird, dass es sich hierbei keinesfalls um eine künstliche Intelligenz handle, die sich ja bekanntlich überhaupt nicht mehr physisch zu manifestieren braucht.

 

Ausgangspunkt ist die reale Vita von Thomas Melle, der als Manisch-depressiver nicht im herkömmlichen Sinne gesellschaftlich oder wirtschaftlich funktionstüchtig ist. Als erfolgreicher Autor aber dennoch in Lesetouren zu funktionieren hat. Psychopharmaka wäre die Waffe, die einer Programmierung ähnlich, ihn ins Effektivitätsschema zu pressen vermöchte. Soweit die Theorie. Dieser stellt er die chemische Kastration, die das vereinigte Königreich an Alan Turing zwangsvollstreckte, gegenüber und damit das Zentralorgan eines der genialsten Denker – er gilt als einer der Erfinder des Computing per se – in einen einzigen Matsch verwandelte.

 

Inwieweit ist Programmierung das Gegenteil eines sogenannt freien Willens, fragt «Unheimliches Tal» einerseits, und andererseits, obs nicht vielleicht mitunter ganz schön praktisch wäre, wenn standardisierte Vorgänge (wie Lesereisen) an etwas Ausserkörperliches in einer total verlässlichen Fassung delegiert werden könnte. Um beim eingehenden Vergleich des Lichtschaltpultes zu bleiben, ein Techniker könnte zu Stückbeginn im Theater «Start» drücken und Feierabend machen, nur die DarstellerInnen müssten sich dann einfach penibel und sekundengenau an den programmierten Ablauf halten. Tönt schwierig und ist darum in Live-Situationen unüblich. Dafür gibts beispielsweise den Film, der schier endlos exakt gleich alles wiederholt wiedergeben kann. Die Fragen des Stücks gehen glücklicherweise noch sehr viel weiter. Ein Gehörloser kann mit einem Implantat hören, durch das Entfernen eines extern am Kopf befestigten Teils die elektronische Krücke ausschalten und in kompletter Ruhe konzentriert arbeiten. Ist das jetzt ein Vorteil gegenüber den Möglichkeiten von Hörenden, eine Allmachtsphantasie oder doch bloss eine Krücke, fragt der Abend bei offenem Ausgang. Das Publikum lenkt er – ganz offensichtlich – zum Schluss: Es könne mit dem Applaus zurückhaltend umzugehen, weil ja die Geräuschkulisse niemand echtes auf der Bühne Stehendes überhaupt zur Kenntnis nehmen kann. Und siehe da. Der Applaus fällt spärlich aus und wird – das ist natürlich eine Unterstellung – von vielen für eine Entscheidung des eigenen freien Willens gehalten. Aufschlussreich wäre der Vergleich zu einer Parallelgruppe, die ohne entsprechende Einführung applaudierte…

 

Interessant werden die Fragen, von denen es in diesen fünfzig Minuten nur so wimmelt, wenn sie in Richtung Forscherdebatte gehen. Offenbar sind sich die Forscher noch nicht einig, ob Roboter, etwa für die Altenpflege, besser ein humanoides oder ein technisches Äusseres bekommen sollen. Das zur Gruppe des Publikums zusammengefasste Individuum nimmt selbstverständlich an, die Frage richte sich nach dem Ideal für die Bedürfnisse von AnwenderInnen, ertappt sich aber einen Sekundenbruchteil später dabei, sich gerade diese Annahme nicht sicher sein zu können. Denn behauptet hat derlei niemand und effizienter wäre ja auch dieselbe Frage aus der Perspektive der am simpelsten – und kostengünstigsten – zu bewerkstelligenden Verwaltung von so geriatrischen, hilfsbedürftigen, also imperfekten Menschen. Plötzlich wirds wirklich unheimlich.

«Unheimliches Tal», 6.9., Gessnerallee, Zürich.

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