Frauen ohne Rechte

Am 24. Juni entschied der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in seinem Urteil im Fall Dobbs vs. Jacksons Women’s Health Organization, das Recht auf Abtreibung aufzuheben. Dieses wurde 1973 im Urteil Roe vs. Wade beschlossen und 1992 im Urteil Planned Parenthood vs. Casey bestätigt. Dieser Entscheid hatte sich abgezeichnet, nachdem am 2. Mai ein Vorentwurf des Entscheids den Medien zugespielt wurde (P.S. berichtete). Jetzt wurde das Urteil mit 6 zu 3 Stimmen gefällt.

 

Die Begründung der Mehrheit, die von Richter Samuel Alito geschrieben wurde, unterscheidet sich nicht gross zu dem bereits bekannten Entwurf. Alito argumentiert wie folgt: Abtreibung sei nicht namentlich aufgeführt, weder in der Verfassung von 1789 noch im 14. Zusatzartikel (auf den sich das Roe-Urteil bezieht), der 1868 ratifiziert wurde. Das Recht auf Abtreibung sei nicht tief verankert in der Geschichte und Tradition der Vereinigten Staaten und aus diesem Grund nicht haltbar. Dieser Fokus auf den Originaltext wird in der amerikanischen Rechtsphilosophie Originalismus genannt. Diese Philosophie will, dass die Verfassung genauso interpretiert wird, wie sie im Zeitpunkt des Verfassens auch gemeint wurde. Diese Argumentation könnte aber in der logischen Konsequenz dazu führen, dass auch andere Rechte infrage gestellt sind wie beispielsweise die gleichgeschlechtliche Ehe, Homosexualität oder Verhütungsmittel. Das streitet Alito ab. Das Urteil hier bedeute nicht, dass andere Urteile ebenfalls aufgehoben werden. Der konservative afroamerikanische Richter Clarence Thomas ist da wohl etwas ehrlicher, der klar die Urteile Griswold (Verhütungsmittel), Lawrence (Homosexualität) und Obergefell (gleichgeschlechtliche Ehe) zur Disposition stellt. Die Frage der Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Hautfarben spart Thomas wohl aus persönlichen Gründen aus, wäre aber in dieser Logik ebenso kaum haltbar. Die konservative Mehrheit liefert gleich noch zwei weitere Stellungnahmen ab, eine von Brett Kavanaugh und eine von John Roberts. Kavanaugh schreibt, die Verfassung äussere sich nicht zur Frage der Abtreibung, sie sei hier neutral. Aus diesem Grund solle man die Entscheidung den gewählten Gesetzgebern und nicht dem Gericht überlassen. Allerdings kann man die Stellungnahme durchaus so interpretieren, dass er einem nationalen Verbot von Abtreibungen gegenüber nicht abgeneigt wäre. John Roberts ist in seiner Stellungnahme etwas differenzierter. Ihm wäre es lieber gewesen, man hätte einen Kompromiss gefunden, in dem man vorerst nur Abtreibungen  ab 15 Wochen verbietet. Das entspricht einerseits seiner Taktik, Veränderungen immer schrittweise durchzuführen. Zum zweiten ist er noch eher in der Tradition verankert, die sich «stare decisis» nennt. Diese Doktrin besagt, dass der Gerichtshof seine Urteile nur revidiert, wenn wirklich gute Gründe vorliegen und nicht, wenn einfach die politische Zusammensetzung ändert. Für seinen Kompromiss fand er allerdings keine MitstreiterInnen. Der Grund für die Vielzahl der Stellungnahmen der Mehrheit ist wohl, dass man dem ganzen konservativen Spektrum von hardcore-konservativ (Thomas) bis zu vermeintlich moderat (Kavanaugh/ Roberts) etwas bieten will, um die eigene Argumentation zu unterfüttern.

 

Die lesenswerte Stellungnahme der Minderheit widerspricht all den vorgebrachten Argumenten deutlich. Wenn man sich wie die Mehrheit auf den Standpunkt stellt, die Verfassung sei nur so zu interpretieren, wie sie 1789 oder 1868 gemeint sei, dann bedeute das, dass man den Frauen alle Rechte abspricht, weil sie zu diesem Zeitpunkt gar keine Rechte hatten. Zum zweiten habe diese Entscheidung eine massive Auswirkung auf die Freiheit der Frauen, ihr Leben selber zu bestimmen. Das Recht auf die persönliche Freiheit der Lebensgestaltung leitet sich aus dem 14. Zusatzartikel ab. Dieser wurde geschaffen, um den ehemaligen Sklaven volle Bürgerrechte zuzusprechen. Der Zwang also für eine Frau, eine Schwangerschaft gegen ihren Willen auszutragen, im Extremfall das Kind ihres Vergewaltigers oder ein Kind, das aufgrund einer schweren Krankheit oder Anomalie nicht lebensfähig ist, sei ein massiver Eingriff in diese Freiheit. Zudem gäbe es eine Reihe von weiteren Gründen wie gesundheitliche oder ökonomische Gründe, die einer Frau es verunmöglichen, die Schwangerschaft fortzuführen. Nicht zufälligerweise sind die Staaten, die jetzt äusserst restriktive Abtreibungsgesetze erlassen haben, auch jene, die Frauen und Müttern kaum medizinische oder wirtschaftliche Hilfe gewähren. Die Doktrin des sogenannten «stare decisis» sei auch damit begründet, dass man ein Recht nicht ändern könne, wenn sich die Menschen daran gewöhnt hätten. Wenn also die Menschen seit fast 50 Jahren davon ausgingen, dass ein entsprechendes Recht gilt und sich entsprechend ihr Leben eingerichtet haben, dann könne man dies nicht einfach wegnehmen.

 

Die Minderheit wehrt sich auch gegen die Sichtweise von Kavanaugh, wonach dieses Urteil neutral und nicht politisch sei, weil es die politische Verantwortung den Exekutiven und Legislativen von Staaten und Bund übertragen will. Ein Grundrecht zeichne sich gerade dadurch aus, dass es nicht demokratisch infrage gestellt werden kann. Wird die Verantwortung an die politischen Ebenen delegiert, sei es eben gerade ein Positionsbezug, zumal sehr viele Staaten bereits entsprechende Gesetze zu Abtreibungsverboten beschlossen haben. Die Minderheit ist auch klar der Meinung, dass man den Betreuungen, das Urteil habe keine Folgen für andere Urteile, keinen Glauben schenken kann. Es sei nicht kohärent, warum jene Entscheide, die noch nach Roe gefällt wurden, eine tiefere Verankerung in der Geschichte und in der Tradition haben sollten. Denn die Verfasser des 14. Zusatzartikels hatten nach dieser Logik bei der Formulierung wohl auch keine gleichgeschlechtlichen Ehen oder Verhütungsmittel vor den Augen. Ziemlich ätzend kommt daher die Minderheit zum Schluss: Entweder glaube die Mehrheit nicht an ihre eigene Argumentation oder weitere Rechte seien in Gefahr. Es gäbe nur diese zwei Möglichkeiten.

 

Wie es weiter geht, ist ungewiss. Bereits vollständig verboten ist Abtreibung in acht Staaten, in zehn weitern Staaten wird die Abtreibung bald massiv eingeschränkt, in zwölf weiteren Staaten drohen ähnliche Gesetzgebungen. Für eine Bundesgesetzgebung fehlen die Mehrheiten aufgrund der Filibuster-Regelung im Senat. Dass sich dies nach den Zwischenwahlen ändern wird, ist fraglich. Laut neusten Umfragen hat das Dobbs-Urteil den Demokraten allerdings etwas Aufwind beschert.

 

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