Franz Kafka,das unerschöpfliche Rätsel

Zu seinem 100. Todestag am 3. Juni 2024
Zweimal verlobt, nie verheiratet: Felice Bauer und Franz Kafka. (Bild: Mondadori Portfolio)
Zu seinem 100. Todestag am 3. Juni 2024

Herkunft

Franz Kafka war Jude. Die Mutter Julie Löwy kam aus einer Kleinstadt und aus dem Mittelstand, der Vater Hermann Kafka war arm und kam vom Land. In Prag gelangte die sechsköpfige Familie dank harter Arbeit des Vaters und aufopfernder Mithilfe der Mutter zu Wohlstand. Sie führten einen Laden für Galanteriewaren (= feine Wäsche und modische Accessoires). Ihr Sohn verbrachte ausser gelegentlicher Reisen sein ganzes Leben in Prag. «Prag lässt nicht los (…) dieses Mütterchen hat Krallen», äusserte er sich gegenüber einem Freund. Sein Leben spielte sich auf engstem Raum ab, innerhalb der Grenzen des ehemaligen Ghettos, das 1848 aufgehoben worden war. 

Dichtung und Brotberuf

Im September 1912 schrieb Kafka in sein Tagebuch: «‹Das Urteil› habe ich in der Nacht vom 22. bis 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben. (…) Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.» Damit war der Dichter Franz Kafka geboren. In dieser Erzählung erhebt sich ein alter kränkelnder Vater plötzlich zu einem furchtbaren Richter, der seinen Sohn zum «Tod des Ertrinkens» verurteilt. Kafkas leiblicher Vater war ein wahrer Lebenskoloss, egozentrisch und jähzornig. Für das dichterische Schaffen des Sohnes hatte er kein Verständnis. «‹Legs auf den Nachttisch› war die gewohnte Reaktion, wenn Franz eine neue Dichtung vorzuweisen hatte. Er hat sich als Schriftsteller an seinem Vater abgearbeitet. Um seine Beziehung zu ihm zu klären, schrieb er ihm 1919 einen neunzigseitigen Brief, den er wahrscheinlich nicht abgeschickt hat.

Franz Kafka promovierte in Jurisprudenz. Er fand seinen Brotberuf in der Prager Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt. Von der Direktion und seinen Mitarbeitern wurde er hochgeschätzt, ja geliebt. Die Lösung der schwierigsten Probleme wurde Doktor Kafka zugetraut. Darüber hinaus verfasste er Studien, die man heute als Ergonomik bezeichnen würde, als die Wissenschaft, welche die Beziehung des Menschen zu seinen Arbeitsbedingungen erforscht.

Kafka selbst hielt sich für einen schlechten Angestellten, Beförderungen und Gehaltserhöhungen mussten ihm aufgedrängt werden. 

Kafkas Unmöglichkeit zu heiraten

In seiner notorischen Selbstunterschätzung zweifelte er immer wieder an seiner Berechtigung als Dichter, aber auch an seiner Ehefähigkeit. Zweimal verlobte und entlobte er sich mit der Berlinerin Felice Bauer, einer lebenstüchtigen und emanzipierten Frau, rang sich dann aber schliesslich zu einem endgültigen Verzicht auf die Heirat durch, da die Ehe ihn zu sehr von seinem Dichten abgelenkt hätte. Gleichzeitig litt er jedoch lebenslänglich an diesem seinem Unvermögen. Er verglich sich dabei mit Flaubert, der, ebenfalls verzichtend, im Anblick einer glücklichen Familie gesagt haben soll, «ils sont dans le vrai».

Kafkas Unmöglichkeit zu lieben

Wie bei vielen grossen Dichtern erschöpfte sich auch bei Kafka die Liebe in Briefen an die Umworbene – selbst im Fall von Milena Jesenska, ihrerseits Autorin und Übersetzerin einiger seiner Dichtungen. Keine zwei Tage waren sie wirklich zusammen, aber ihre Liebe zog sich während Jahren in Briefen hin. So etwas wie Liebesglück wurde ihm am Schluss seines Lebens mit Dora Diamant zuteil. Dem 34-Jährigen war eine Tuberkulose diagnostiziert worden, der er dann 41jährig trotz ärztlicher Kunst und Doras hingebungsvoller Pflege erlag.

Max Brod, der Freund

Prag war um die Jahrhundertwende ein Zentrum deutscher Literatur. Zu nennen wären vor allem Rainer Maria Rilke, Johannes Urzidil, Gustav Meyrink und Franz Werfel. Alle diese Autoren schrieben auf Deutsch, auch Kafka, der sich im mündlichen Verkehr durchaus des Tschechischen zu bedienen wusste. Max Brod, Kafkas engster Freund, ist als Schriftsteller vergessen, unschätzbar aber sind seine Verdienste als sein Förderer. Er glaubte unverbrüchlich an sein Genie, trieb ihn zum Schreiben an, fand für ihn Verleger. Kafka hatte ihn testamentarisch als Erblasser seiner Dichtungen eingesetzt, allerdings verlangt, alles zu vernichten, was nicht zu seinen Lebzeiten erschienen war, und das war nur ein verschwindend geringer Teil von dem, was er zu Papier gebracht hatte. Brod hat sich diesem Verlangen glücklicherweise widersetzt. Kafka wiederum mag insgeheim mit Brods Weigerung gerechnet haben. 

Ein zweites Mal rettete Max Brod den Nachlass vor den Nationalsozialisten. Er war auch der erste, der nach dem Krieg Kafkas Werke herausgab und deutete. Seine Vorgehungsweise als Herausgeber jedoch und seine Bemühungen, Kafka als Propheten und Heiligen darzustellen, werden aus heutiger Sicht zurückgewiesen. 

Tragisch, komödiantisch, schwarzer Humor

Kafka bewunderte Kleist, aus dessen Werk er öffentlich vorlas. In seinen eigenen Dichtungen streute er zwischen ganz kurzen Sätzen lange verschachtelte Perioden, die an Kleists Schreibweise erinnern. Seine Erzählung «Auf der Galerie» umfasst eine einzige Buchseite und besteht aus nur zwei Sätzen, die zwei gegensätzliche Aspekte derselben Situation beleuchten, modellhaftes Beispiel für Kafkas dialektische Weltsicht. «Wenn irgend eine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Menge auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden, erbarmungslosen Chef (…) rundum getrieben würde, vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters. Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiss und rot, hereinfliegt; (…) der Direktor (…) vor dem grossen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schliesslich die Kleine vom zitternden Pferd hebt, auf beide Backen küsst und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; (…) – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.» 

Kafka hat an drei Romanen geschrieben, die er alle nicht zu Ende führen konnte, so dass sie dank Max Brods Betreiben postum erschienen. Doch gerade ihr Non-Finito vermag die Fantasie des Lesers, der Leserin anzuregen. Am weitesten ist «Der Prozess» gediehen. Da wird der Bankangestellte Josef K. an seinem 30. Geburtstag (so alt war der Autor, als er den Roman begann) am frühen Morgen von zwei ihm unbekannten Männern aus dem Bett geholt. Sie erklären ihn für verhaftet, doch er ist sich keiner Schuld bewusst. Von da an besteht sein ganzer Lebensinhalt darin zu ergründen, von welcher Instanz und warum er angeklagt wurde und von wo er Hilfe bekommen könnte, um den Prozess zu seinen Gunsten zu wenden. Seine Anstrengungen sind vergeblich, er wird zum Tod verurteilt. Die Todesszene hat Kafka als Schmierenkomödie und in Slapstick-Manier gestaltet. «Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stiess und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. ‹Wie ein Hund!› sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.» Um welche Scham mag es sich handeln, wird man sich fragen. Weil Kafka/Josef K. nicht einsehen wollte, dass er schuldig ist? Weil der Autor sich vornahm, nach Palästina auszuwandern, doch den Schritt dann doch nicht wagte? Weil er zweimal dazu ansetzte, Felice Bauer zu heiraten, dann aber von einer Ehe endgültig zurückschreckte? 

Im Roman «Das Schloss» scheitern die Bemühungen des Landvermessers K. wie diejenigen des Bankbeamten Josef K. Nie wird es ihm gelingen zu den Schlossbeamten vorzudringen, um sich legitimieren zu können, um von ihnen die Erlaubnis zu erhalten, im Dorf heimisch zu werden. Die ganze tragisch getönte Romanhandlung ist wie im «Prozess» mit schwarzem Humor durchsetzt, der sich beispielsweise darin verdichtet, dass dem Landvermesser bei seiner Ankunft zwei Gehilfen zur Zerstreuung und Erheiterung zugeteilt werden, die ihn jedoch nur ärgern und behindern – man mag sich bei diesen clownhaften Typen an die Kastraten Roby und Toby in Dürrenmatts tragischer Komödie «Der Besuch der alten Dame» erinnern.

Kafkas dritter Roman «Amerika», ebenfalls reich an Slapstick-Szenen, scheint glücklich zu enden. Die Hauptfigur Karl Rossmann wird schliesslich von einem rätselhaften Naturtheater von Oklahoma aufgenommen, bei dem alle willkommen sind, die ernsthaft an ihm teilnehmen wollen. Doch hat Kafka in einer Tagebuchnotiz festgehalten: «Rossmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schliesslich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichter Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen.»

Stellt sich die Frage, warum Kafka seine Romane nicht vollendet hat. Hinderten ihn an der Vollendung die fortschreitende Krankheit, der Brotberuf, die Verstrickung in seine Liebesbeziehungen? Wandte er sich, wenn die Arbeit am Roman stockte, leichteren Vorhaben, zum Beispiel Erzählungen zu, die ihm wenigstens zeitweise Befriedigung schenkten?

Unausschöpfbar

Franz Kafka wird in den Schulen gelesen und gleichzeitig gehört er zur Weltliteratur. Das von seinem Namen abgeleitete Wort «kafkaesk» steht im Duden, womit etwas Unheimliches, unfassbar Drohendes bezeichnet wird. Scharen von Literaturwissenschaftlern, Psychologinnen, Philosophen und Dichterkolleg:innen versuchten und versuchen sein an äusserem Umfang schmales Werk zu deuten, und es gelingt ihnen jedes Mal nur zum Teil. Der Dichter und Mensch Franz Kafka fasziniert bis heute, er bleibt unauslotbar.