Fragile Balance

Die politischen Hintergründe und Versäumnisse der Regierung, die dazu geführt hatten, dass in vielen französischen Metropolen regelrechte Ghettos entstanden sind, in denen die BewohnerInnen in Gangs ihre eigenen Regeln durchsetzen, ist eine Frage, die ausserhalb des Drehbuchs von «Les Misérables» von Ladj Ly bleibt. Dafür stürmt der Film Kopf voran ins Geschehen. Der zugereiste Polizist Stéphane (Damien Bonnard) hat seinen ersten Tag. Er liess sich hierhin versetzen, um bei seinem Kind sein zu können, dafür nimmt er viel in Kauf. Ein Wunschrevier ist das polizeiintern nicht. Die Plattenbauten von Les Bosquets im Pariser Vorort Clichy-Montferneuil sind ein sozialer Hotspot. Anerkannte Autoritäten sind der ‹Bürgermeister› genannte Vorsteher eines Quartierbüros (Steve Tientcheu) und das Oberhaupt der ortsansässigen Muslimbrüder (Almamy Kanoute).

Die Kids und Jugendlichen orientieren sich entlang der durch Faustrecht definierten Hackordnung – und ziehen nach Möglichkeit den Kopf im richtigen Augenblick doch noch ein. Einer unter ihnen, Issa (Issa Perica) macht sich einen Spass daraus, dem eben angekommenen Zirkus ein Löwenbaby zu klauen. Ein Dummerjungenstreich, der sich nach einigen Wallungen in Minne auflösen könnte, wäre die gesamte Gemengelage hier nicht dermassen fragil. Und wäre mit der Erregung des Zorns von Zorro (Raymond Lopez), dem Leader der muskel-, adrenalin- und testosterongeschwängerten Zirkusfamilie nicht ein Funken an die Lunte übergesprungen, der sich durch eine kontinuierliche Steigerung der Erregung alias Gewaltbereitschaft in eine Eskalation verwandelt. Das Ordnungsverständnis von Stéphane wird durch seine beiden Kollegen, vor allem dem Chef Chris (Alexis Manenti), der sich selber für das Gesetz hält und die BewohnerInnen für ‹Wanzen› in Windeseile demontiert. Ein Schuss fällt, ein Junge stirbt, das Drohnenfilmchen verbreitet sich im Internet und die Polizisten werden von Jägern zu Gejagten. «Les Misérables» stellt keine Empathiefrage, sondern das Kippen einer fragilen Balance dar. froh.

 

«Les Misérables» Kinos Arthouse Piccadilly, RiffRaff.

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