Feminismus II

Am 1. Mai trugen in Zürich Feministinnen eine «rebellische Vulva» (ein madonnen-ähnlich gewandetes, übergrosses weibliches Genitale) im Umzug mit. Sie solidarisierten sich so mit Frauen in Spanien, die mit einer ähnlichen Prozession gegen ein Abtreibungsverbot und für sexuelle Freiheit demonstriert hatten. Ein intaktes Patriarchat in Form von Staat, Gerichten und Kirche sanktionierte sie prompt und hart wegen Verletzung religiöser Gefühle.

 

Wer nun glaubt, weiter nördlich seien wir Frauen freier und gleichberechtigter, wenn wir es nur richtig anstellten, sitzt wahrscheinlich einem trügerischen Fortschrittsglauben auf… Acht Tage davor trat in London Herzogin Catherine mit ihrem Neugeborenen in einer Demonstration perfekter Mühelosigkeit vor die Menge. Das Volk erkannte ihre majestätische Zurschaustellung eines übermenschlichen Ideals jedoch nicht als Insignie königlicher Macht, sondern handelte ‹Kate› in Kommentaren und Blogs als eine der Ihren ab: Eine typisch heutige, bemitleidenswerte Mutter, die sich der Öffentlichkeit nicht mal am Tag der Geburt übermüdet und nachlässig zeigen darf.

 

Das sind Indizien dafür, dass heute Leitideologien (hier die Königswürde) zwar abgeschafft, aber gleichzeitig internalisiert wurden: Wir können nicht mehr im Schatten eines unerreichbaren Ideals erlaubterweise mangelhaft leben, sondern auferlegen uns den Zwang, fehlerfrei zu sein. Da, wo die gnadenlose obrigkeitliche Strenge ihre Wirkmacht verloren hat, regieren wir uns umso rigider selber und inszenieren unfreiwillig das harsche Konformitätsgebot unserer Fitness- und Leistungsgesellschaft, insbesondere vor dem omnipräsenten Überich-Auge der Social Media. Die heutige Diktatur der Gesundheit und Leistungsfähigkeit bewirkt ein Paradox von individueller Freiheit und Konformitätszwang. (Der italienische Psychoanalytiker Massimo Recalcati sieht darin den Grund für die «bulimisch-anorektische Epidemie», die er in seiner Praxis feststellt.)

 

Gerade in den angestammt weiblichen Berufen herrscht nun ein maximaler Konformitäts- und Leistungszwang: Jede Handreichung des Putz-, Spitex-, Spital- oder Pflegepersonals ist minutiös vorgeschrieben und muss im Minutentakt abgerechnet werden. Daraus resultiert nachgerade ein Verbot nicht-verrechenbarer menschlicher Zuwendungen. So werden diese Arbeiten und ihr inhärenter Ethos ihrer Essenz beraubt. (Da Übererfüllung der Normen ein weibliches Stereotyp ist, erklärt sich auch die hohe Burnout-Rate der Frauen.) Dies ist nicht die Freiheit, die wir meinten, als wir unser Recht auf bezahlte Arbeit einforderten!

 

Während unter einer intakten patriarchalen Ideologie noch die Freiheit, ausser Haus arbeiten zu dürfen, erstritten wird, kann in der postideologischen Gesellschaft die (unbezahlte) Hausarbeit bereits wieder als Zuflucht vor dem gnadenlosen Leistungsprimat erscheinen. (Warum sonst sollten Männerorganisationen, wie etwa menCare, ihre Broschüren mit Kinderbetreuung- und Haushalt-glorifizierenden Bildern schmücken und den Frauen ein unterstelltes ‹Vorrecht› darauf abfordern?) Diese und andere historisch verschiedenen Situationen existieren heute neben- und durcheinander. Wir sollten ihre Akteurinnen nicht richten, sondern ihre Bestrebungen für voll nehmen und in den Schoss des Feminismus führen!

 

Ina Müller

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