Faulenzen fürs Klima

Anahí Frank

 

Arbeit gibt es gemäss Bertrand Russell in zwei Ausprägungen: Materie bewegen oder anderen Menschen den Auftrag dazu geben. Als Journalistin in Spe bewege ich lediglich meinen Laptop und meine Kaffeetasse hin und her und müsste somit zur letzteren Kategorie gehören. Nur dass ich – wie Russell selbst – meinen LeserInnen auftragen will, nicht mehr, sondern weniger Materie zu bewegen. 

 

Natürlich ist Russells Arbeitsauffassung etwas aus der Zeit gefallen. Als er sein Essay «In Praise of Idleness» 1935 schrieb, waren die meisten ArbeiterInnen körperlich tätig, während sich seine wohlhabenden und adligen ZeitgenossInnen mit elegantem Nichtstun vergnügten. Entsprechend verstand Russell unter Arbeit eine anstrengende Erwerbstätigkeit, die man eher notgedrungen ausführte. Heute rühmen sich auch Reiche mit frühen Morgenstunden und viele haben ehrlich Freude an ihrem Gelderwerb. 

 

Unverändert aktuell und unerfüllt bleiben hingegen Russells Forderungen: Kein Mensch soll mehr Materie herumschieben müssen, als er oder sie zum Leben braucht. Denn arbeiten ist für Russell keine moralische Pflicht, sondern lediglich Mittel zum Zweck des guten Lebens. Und für das gute Leben brauche es nur ein bestimmtes materielles Wohl, aber viel Kreativität, Bildung und Musse. Deshalb sollten wir eine Überproduktion vermeiden und die übrigbleibenden Mussestunden ausgeglichen verteilen. 

 

Ähnlich wie Russell sah auch der Ökonom John Maynard Keynes in der technischen Entwicklung die Hoffnung auf kürzere Arbeitsstunden. 1930 prognostizierte Keynes, dass seine Enkel eine vier- bis achtmal höhere Lebensqualität hätten und nur 15 Stunden pro Woche arbeiten würden. Die erste Voraussage haben wir in Westeuropa erreicht, von der zweiten trennen uns aber immer noch mehrere Dutzend Arbeitsstunden. 

 

Dabei war Russells Forderung nach weniger Überproduktion noch nie so dringend wie angesichts der Klimakrise. Wenn wir zu viel Wald, Flugzeuge und Beton verschieben, droht uns mehr als Überarbeitung und ein verpasstes Leben. Es stellt sich also die Frage, an welchem Ende der Gleichung wir am besten ansetzen: Sollen wir weniger arbeiten oder weniger konsumieren?

 

Spätestens seit dem Begriff «ökologischer Fussabdruck» wird die Verantwortung für den Überkonsum gerne den Individuen in die Schuhe geschoben. Dabei wird jedoch vernachlässigt, wieviele äussere Faktoren unser Konsumverhalten mitbestimmen. Darunter auch die Arbeit: Je mehr wir arbeiten, umso mehr sind wir auf zeitsparenden Konsum angewiesen. Fertigprodukte statt Eintopf, neue Jeans statt flicken lernen, fliegen statt mit dem Zug nach Barcelona zuckeln. Eine Studie in Paris hat gezeigt, dass Menschen mit längeren Arbeitszeiten häufiger auswärts assen, mit dem Auto fuhren oder Putzhilfen anstellten – das galt auch für den Vergleich innerhalb derselben Einkommensklasse. Und als 2001 die 35-Stundenwoche eingeführt wurde, veränderten viele FranzösInnen ihren Alltag. Statt mehr zu konsumieren, gaben die meisten in einer Umfrage an, die zusätzlichen Stunden mit ihrer Familie, Erholung oder Sport zu verbringen. 

 

Aber – wie tausende StausteherInnen nur zu gut wissen – auch die Arbeit selbst kann die Umwelt verpesten. Rund die Hälfte aller Schweizer Erwerbstätigen pendelt mit dem Auto, ein Arbeitstag und zwei Arbeitswege weniger könnten hier also schon viel bewirken. Zudem könnten auch Energieausgaben am Arbeitsplatz gespart werden, etwa beim Heizen oder dem Stand-by-Zustand von elektronischen Geräten. 

 

Ein Bericht der britischen Klimaschutzgruppe «Platform London» hat die Resultate vieler Pilotprojekte und wissenschaftlicher Studien zusammengefasst und ist zu folgendem Ergebnis gekommen: Um 21 Prozent pro Jahr könnte das vereinigte Königreich die eigenen Treibhausgas-Emissionen senken, wenn die Arbeitswoche auf vier Tage beschränkt würde. Das sind 127 Millionen Tonnen CO2, mehr als der geschätzte Fussabdruck der Schweiz. Die Reduktionsmöglichkeit bleibt beachtlich, auch wenn wir das veränderte Verhalten der Menschen weniger optimistisch einschätzen und annehmen, dass nicht alle ihre Arbeitsgänge werden reduzieren können. Ausserdem hat dieser Bericht mit einem vollen Lohn gerechnet. Würden die Menschen pro Kopf weniger verdienen als bisher (beispielsweise durch mehr Teilzeitarbeit), könnten wir mit weniger Konsum und weniger Emissionen rechnen. 

 

Dass die Viertageswoche keine Utopie von Faulpelzen ist, haben bereits die IsländerInnen bewiesen. Während eines vierjährigen Pilotprojekts haben 2500 Berufstätige, darunter BüroarbeiterInnen und Spitalangestellte, ihr Pensum auf etwa 35 Stunden reduziert und in vielen Fällen ihre Produktivität erhalten oder sogar erhöht. Daran anknüpfend haben die Gewerkschaften die Arbeitsbedingungen neu verhandelt, sodass heute fast 90 Prozent der IsländerInnen bereits fünf Stunden weniger arbeiten oder das Recht dazu haben. Bei vollem Lohn wohlgemerkt. Die GemeinderätInnen Anna Graff (SP) und David Garcia Nuñez (AL) haben sich davon inspirieren lassen und in der Stadt Zürich einen ähnlichen Pilotversuch gefordert. 

 

Aber wieso kommen viele dieser Vorstösse erst jetzt? Keynes hat vorausgesagt, dass wir uns ab einem gewissen Lebensstandard mehr nach Musse denn nach Reichtum sehnen würden. Dabei jedoch unterschätzt, wann dieser erreicht ist. Vielleicht hat er auch nicht bedacht, dass der Mensch sich an materiellen Luxus gewöhnt und einen Zweitferrari auslösen muss, was der erste nicht mehr kann. Oder dass unsere Zufriedenheit nur genauso gross ist wie der Unterschied zum Nachbarsauto. Möglicherweise stecken wir auch, wie Russell es ausdrückt, noch in einer Sklaven-Arbeitsmoral fest. Und fürchten, von der NZZ als faule Gen-Zer oder verwöhnte, teilzeitarbeitende StädterInnen verspottet zu werden, wenn wir uns mit weniger Gelderwerb zufriedengeben. 

 

Wenn wir weniger arbeiten wollen, müssen wir also mehr verändern als die Gesetze und Unternehmen. Ohne ein gesellschaftliches Umdenken wird das 100-Prozent-Pensum zwar kürzer, aber die Überstunden länger. Und leider werden die Treibhausgase, die wir in die Luft pumpen, nicht weniger schädlich, nur weil wir uns beim Emittieren fürchterlich angestrengt haben. Das gilt auch für mich, die ironischerweise um acht Uhr abends in einem hell erleuchteten Büro sitzt und an den letzten Zeilen feilt. Ich höre auf, wenn auch in der NZZ die Lichter früher ausgehen. Versprochen.

 

 

 

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