Faszinierend unheimlich

Der Bahnhof Zürich-Enge ist zu gross, unschweizerisch – genau richtig für Zürich. Eine persönliche Annäherung.

 

Jedes Mal, wenn ich mit meinem Fahrrad die General-Wille-Strasse vom See her Richtung Tessinerplatz fahre, baut sich dieses Monument von einem Bahnhof vor mir auf, zuerst nur ein Teil der Fassade, dann alle 25 Stichbogenarkaden des Bogengangs. Und jedes Mal muss ich kurz innehalten, mein Fahrrad abstellen und den Bau auf mich wirken lassen. Die Arkaden aus Tessiner Granit, eine Mischung aus dunkelbraunen Hau- und helleren Quadersteinen, lässt ihn gross, überdimensioniert, widerständig wirken – maximal un-zwinglianisch also. Der Bau lässt sich in seinem vollen Ausmass nicht in einem Blick erfassen, dafür ist auf dem Tessinerplatz gar nicht genügend Platz. 

 

Der Betrachter muss also sich dem Bau unterwerfen, seinen Kopf hin und her bewegen, und so fühlt man sich als Individuum plötzlich klein und unbedeutend. Das ist das faszinierende und gleichzeitig auch unheimliche Gefühl, das der Bahnhof Enge auslöst: Er könnte problemlos auch in Italien oder Deutschland stehen. Zürich hatte zwar nie einen Diktator, baute sich aber in der Zwischenkriegszeit ein Stück Diktaturklassizismus.

 

Tiefergelegt

Dabei war der Vorgänger des heutigen Bahnhofs Zürich-Enge unscheinbar. Als Teil der linksufrigen Seebahn wird er 1875 eröffnet. Damals wird der langgezogene und funktionale Fachwerkbau mit gezierten Giebeln noch auf Strassenniveau geführt, entlang der heutigen Alfred-Escher-Strasse. Doch wie überall in der Stadt nimmt auch im Quartier Enge der Privatverkehr zu, immer mehr Bahnschranken müssen gebaut werden. Das kostet Zeit und führt zu Unmut: Eine Verkehrszählung aus dem Jahr 1913 rechnet vor, wie viel Zeit alle FussgängerInnen, Fuhrwerke, Rad- und die wenigen AutofahrerInnen zusammen in einem Jahr an den Bahnschranken im Aussersihl und in der Enge verlieren: 18 000 Tage. 

 

Zeit, die man in der aufstrebenden Limmatstadt nicht hat. Deswegen stimmt der männliche Teil der Bevölkerung am 15. November 1914 einer Verlegung der Seebahn zu, und somit auch einem Neubau der Bahnhöfe Enge und Wiedikon. Dafür musste kurzerhand auch die Sihl um fünf Meter angehoben werden, aber was tut die Stadt nicht alles für den Individualverkehr.

 

Besonders um den Neubau in der Enge entwickelt sich aber schnell eine Kontroverse. In einem Architekturwettbewerb setzen sich die jungen Gebrüder Pfister mit ihrem Projekt durch. Dabei gibt es viele Bedenken gegen den Monumentalbau: Der vorgesehene Segmentplatz würde das Verkehrsproblem nicht lösen, der martialisch wirkenden Kollonaden-Bau der Gebrüder Pfister sei unschweizerisch. Doch der Stadtrat übergeht die zahlreichen Bedenken der Fachwelt und entscheidet sich 1923 für den heutigen Bahnhof Zürich-Enge. Die Expertenmeinung unterlag, wie so oft, politischem Kalkül: Wie heute löste der Bau bereits damals, noch als Bauskizze, eine populistische Faszination auf die Massen aus. Ein Bewohner der Enge lässt sich 1923 in der ‹Schweizer Bauernzeitung› zitieren: «Wir wollen den Kollonaden-Bahnhof oder keinen.»

 

Am 1. März 1927 es ist dann so weit: Aus den Bahnhöfen Zürich-Enge und Zürich-Wiedikon fahren die ersten Züge los. In einer Rede unter der imposanten Kuppel in der Ankunftshalle eröffnet der Präsident der Generaldirektion der Bundesbahnen Anton Scharfl den Bahnhof Zürich-Enge mit geschwollenen Worten – und bestätigt die Vermutung, dass der Bahnhof halt doch auch Repräsentationsbau ist: «Zürich kann sich mit berechtigtem Stolze dieses Werkes freuen. Möge diese Freude auch ein gutes Omen für die glückliche Zukunft der Stadt Zürich und unseres ganzen Landes sein.» 

 

Ein Bahnhof von Weltformat

Bereits zehn Jahre später ist der Bahnhof Zürich-Enge der zweitgrösste der Stadt: 1937 werden bereits rund 2 000 000 Fahrkarten verkauft. Aber nicht nur für die Stadt selbst wird der Bahnhof immer wichtiger: Er ist auch das Tor der Limmatstadt in den Süden, der Ausgangspunkt der Gotthardbahn. Und wird am Pariser Gare de l’Est auf dem Fahrplan neben Städten wie Wien, Budapest, Sofia oder Bukarest aufgeführt. Hier hält nämlich ab 1924 der weltberühmte Orientexpress, auf dem Weg von Paris nach Istanbul. Einer, der diese Fahrt im Schlafwagen dokumentieren wollte, ist der Zürcher Fotograf Peter K. Wehrli. 1967 besteigt er am Bahnhof Zürich-Enge den Zug mit dem Ziel Beirut. Doch als er bereits eine Stunde im Zug sitzt, merkt er, dass er seine Kamera zu Hause vergessen hat. Wehrli, ein Fotograf auf Fotoreportage ohne Fotokamera, macht die Not zur Tugend und schreibt die Szenen, die er eigentlich ablichten wollte, auf. Seine «134 wichtigsten Beo­bachtungen während einer langen Eisenbahnfahrt» erscheinen sieben Jahre später ein erstes Mal, in einem Verlag in Bolivien. 

 

Überhaupt ist der Bahnhof Zürich-Enge oft Kulisse für historische Ereignisse. Immer wieder spielt sich in diesem trutzigen Bau, der so gar nicht dem Schweizer Selbstverständnis passen mag, Weltgeschichte im Kleinformat ab.

 

Als Winston Churchill am 18. September 1946 auf seiner Ferienreise durch die Schweiz im Roten Doppelpfeil – ein Prestigezug, der für die Landesausstellung 1939 gebaut wurde – in Zürich ankommt, wird er von einem jubelnden Menschenmenge auf dem Tessinerplatz begrüsst. Die Nachkriegseuphorie ist förmlich greifbar: «Ein Bild der Huldigung und Begeisterung bot sich hier dem hohen Gast, wie sie hier seit den Tagen der Landesausstellung nicht mehr zu sehen war», kommentiert die NZZ damals. Dabei war ein offizieller Empfang eigentlich gar nicht vorgesehen – Churchill hätte inkognito in Zürich eintreffen sollen. 

 

Deutlich düstere, wenn auch nicht minder historische Szenen spielen sich elf Jahre später an den Gleisen ab. Am 11. August 1957 trifft am Bahnhof Enge eine Gruppe von Schweizer RückkehrerInnen der «Weltfestspieltage der Jugend und Studenten» in Moskau ein. Die in Vergessenheit geratenen Ereignisse hat Rafael Lutz in einem lesenswerten Buch minutiös aufgearbeitet. 

 

In den 1950er-Jahren herrscht hierzulande ein beissender Antikommunismus und die Teilnahme einer Schweizer Delegation an den linken Weltfestspieltagen im kommunistischen Moskau war der bürgerlichen Schweiz von Beginn weg ein Dorn im Auge. Als die 75 TeilnehmerInnen nach einer langen Reise endlich wieder in der Heimat ankommen, werden sie von einer durch die bürgerliche Presse aufgehetzten Masse an unheimlichen Patrioten empfangen. Die wenigen Reisenden, die aus dem Zug aussteigen, werden verprügelt, mit Waffen bedroht, müssen in den Ulmbergtunnel Richtung Bahnhof Wiedikon flüchten. Eine Frau wird sogar mit Gewalt unter den Zug auf das Gleis gedrückt und einer Scheinhinrichtung ausgesetzt. Die Polizei, so ein anwesender Journalist der PdA-Zeitung Vorwärts, habe nur eingegriffen, wenn die anti-kommunistischen DemonstrantInnen «das von ihr geduldete Mass an Tätlichkeiten überschritten hatten». 

 

Mit der S-Bahn kam das Leben zurück

Inzwischen hat sich der Bahnhof Zürich-Enge erneut verändert. Der internationale Charme, er ist ihm abhanden gekommen. Nachtzüge halten hier schon lange nicht mehr. Kurzfristig drohte er, zu einem schläfrigen Quartierbahnhof zu verkommen – schöne Form ohne Inhalt. Aber mit der Aufnahme des S-Bahn-Betriebs Anfangs der 1990er-Jahre verwandelt er sich zu einem wichtigen Umsteigebahnhof für PendlerInnen. Hier treffen heute BankerInnen auf dem Weg zum Paradeplatz auf TouristInnen, die an den See wollen; SchülerInnen auf Fussballfans, die das Fifa-Museum besuchen. Das neue Publikum schlägt sich auf das innere des Bahnhofs nieder: Aus dem einstigen Repräsentationsbau und Tor zur Welt ist Anfangs 2000er-Jahre ein Dienstleistungszentrum geworden, dem orangen und goldigen M sei Dank. 

 

Doch von aussen sieht der Bahnhof heute immer noch gleich aus der Zeit gefallen aus wie 1927: Monumental, einschüchternd, faszinierend unheimlich. 

 

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