Faszination der Vielfalt

Die Fotostiftung Schweiz zeigt unter dem Titel «As Time Goes By, 1972 – 2014» fünf Portraitserien von Barbara Davatz (*1944), die in ihrer Summe jegliche Art von Schubladisierung – Herkunft, Sexualität, ja sogar so etwas wie ein Schönheitsideal – komplett ausser Kraft zu setzen vermögen. 

 

Die titelgebende Serie einer Langzeitstudie begleitet die Fotografin Barbara Davatz Liebes- und Freundespaare über einen Zeitraum von 34 Jahren. Viermal – 1982, 1988, 1997 und 2014 – bittet sie ihre ProtagonistInnen in der jeweils aktuellen Paarkonstellation zum Shooting. Neben dem Offensichtlichen, dem Wechsel der Mode und den gleichbleibenden individuellen Merkmalen von Gesichtern auch über die Jahre, lassen sich aus dieser Serie von nüchtern frontal aufgenommenen Portraits in vergleichsweise hartem Licht, noch sehr viel mehr Parameter ablesen. Barbara Davatz bietet bloss die Vornamen und das Jahr zur Orientierung. Einige Serien – für Stadtzürcher sind darunter etliche Bekannte – sind streng klassisch und zeigen eine Frau mit dreimal demselben Partner und im vierten Bild mit einem neuen Mann, der nicht selten sogenannt typähnlich ausschaut. Andere Serien sind länger und komplexer. Insbesondere dann, wenn sich die Portraitierten fortgepflanzt  und sich getrennt, wieder zu einer neuen Paar- respektive Familienkonstellation zusammengefunden haben. Die heranwachsenden Kinder sind in späteren Aufnahmen plötzlich im direkt vergleichbaren Alter mit den Eltern auf dem Ursprungsfoto. Barbara Davatz begleitet aber teilweise auch die getrennt lebenden Elternteile und schafft damit fast so etwas wie ein Bilderrätsel der Zusammenhänge.

 

Zeitläufte

Die dem Mensch innewohnende Neugierde, alles à fonds ergründen zu wollen, spielt einen zu Beginn des Ausstellungsbesuchs noch den Streich, just in die Vorliebe für schubladisierende Zuschreibungen zurückzufallen. Durch die komplexer werdenden Zusammenhänge weiter im Ausstellungsinnern gezeigten Serien, wird dieses Oberflächeninteresse zusehends zurückgedrängt und Fragen nach der (wechselnden) sexuellen Ausrichtung beispielsweise verlieren an Interesse. Dergestalt verführt, in der Betrachtung einen Schritt zurückzutreten und den Fokus aus einer entfernteren Perspektive darauf zu legen, was die Fotografin primär herausholen wollte: Den Ausdruck. Damit sich eine minimale Vergleichbarkeit unter der Vielzahl von Paarungen überhaupt herstellen lässt, bittet Barbara Davatz ihre Modelle, einen quasi neutralen Gesichtsausdruck einzunehmen. Das hat Anzeichen von Verkrampfheit genauso wie von Pose, ermöglicht indes zum Beispiel auch die Wiedergabe einer individuellen Entwicklung. Die allgemeine Körperhaltung wie auch die der Hände etwa können genauso Zeugnis einer Veränderung darstellen, wie die blosse Wanderung des Haupthaares runter zum Kinn bei nicht nur einem der Männer.

 

Neutraler Raum

Auch die annähernd fünfzig Front-Mitarbeitenden des Modekonzerns ‹Hennes & Mauritz›, die Barbara Davatz 2007 unter dem Titel «Beauty Lies Within» realisiert hat, posieren in nüchternem Studioambiente. Vermutlich in ihren Freizeitkleidern abgelichtet, widerspiegeln die Damen und Herren eine grosse Bandbreite. Einige wirken, als ob sie die Fotografie quasi über sich ergehen liessen, andere wiederum stellen sich annähernd professionell in Pose. Methoden zur Betonung der Taille oder dem Gegenteil, der Kaschierung der Körperpolster, sind wieder die allerersten tendenziell voyeuristischen Auffälligkeiten. Mit etwas mehr Musse fallen die unterschiedlichen Alter, die verschiedenen physischen Merkmale, die grosse Bandbreite an Hautfarbe, Nationalität und einem irgendwie gearteten Schönheitsideal entsprechend respektive nicht entsprechend auf. Skandale wie unlängst medial ruchbar geworden, wie bei der Modekette ‹Abercrombie & Fitch,› deren Personalrekturierung primär auf eine physische Attraktivität setzte, sind hier nicht zu befürchten. Allerdings kommt – als Nichtkunde – schnell einmal die Frage auf, ob die hier abgebildeten VerkäuferInnen bei ihrer Arbeit eine Art Uniform trügen, was zur Folgefrage führte, weshalb sich Barbara Davatz für ein Shooting im Privatdress entschied. Eine Besucherin konnte den Schreibenden aufklären: Es gibt offenbar keine Uniformen bei ‹H&M›. In der Art der Aufnahme der Fotografierenden werden aus FunktionsträgerInnen reale Menschen, die durch die bare Widergabe ihrer Präsenz eine Vielzahl von Geschichten erzählen.

Der Eindruck, die Ausstellung von Barbara Davatz in Richtung Hochlebenlassen der Vielfalt lesen zu können, unterstreichen auch zwei komplett im Gegensatz zum Rest stehende Komponenten. Recht sonderbare Wandtexte auf der einen und ein Kabinettstück mit einer Arbeit zu familiären Eigenschaften und Verwandtschaften unter dem Titel «Gsüün» auf der anderen Seite, die einen ziemlich direkt und nicht minder bitter an frühe Bestrebungen der Rassenunterscheidung qua physiognomischer Merkmale erinnern.

 

Frühe Portraits

In einem abgedunkelten und musikalisch untermalten Raum zeigt die Fotostiftung zwei frühe Portraitserien. «Portrait einer Schweizer Firma» von 1972 – daher auch der lange Zeitraum des Ausstellungstitels – und «Doppelgänger» aus dem Jahr 1975. Gerade erstere komplettiert den Eindruck einer nachgerade auf Diversität ausgerichteten Gesamtschau. Hier werden Arbeitende aus verschiedenen Chargen einer Schweizer Textildruckerei und Zwirnerei in Schwarzweiss jeweils mit ihren Namen, der Nationalität und der Firmenfunktion in einem Projektionsloop gezeigt. Hier sind fremdländische Namen mit Schweizer Pass genauso mit von der Partie, wie Personen mit urschweizerisch klingenden Namen und entsprechendem Pass, die demgegenüber in ihrer Physis letztlich zu den am Fremdländischsten aussehenden der gesamten Serie gehören. Spätestens an dieser Stelle des Ausstellungsrundganges fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Erstens die Erkenntnis, welch Schönheit die menschliche Vielfalt bereithält, bekommt man einmal die Chance, sie quasi auf dem Silbertablett serviert betrachten zu können. Und zweitens, welch absonderliche Motivation der Bestrebung zugrunde liegt, alle und alles praktisch in einem Reflex oder einer Ordnungssehnsucht in Schubladen einordnen zu wollen. Danke für diesen anschaulich präsentierten Hintersinn.

 

«Barbara Davatz: As Time Goes By, 1972 – 2014», bis 16. Mai, Fotostiftung Schweiz, Winterthur. Katalog.

 

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