Falscher Missbrauchsgedanke

Anfang nächstes Jahr wird der Kantonsrat über die Kürzung der Unterstützungsleistungen für vorläufig aufgenommene AusländerInnen befinden. Die Freiplatzaktion Zürich warnt vor einer Prekarisierung.

 

von Tim Rüdiger

 

Im Jahr 2011 nahm die kantonale Zürcher Stimmbevölkerung in einer Referendumsabstimmung überraschend eine Änderung des Sozialhilfegesetzes an. Unter anderem wurden vorläufig aufgenommene AusländerInnen, die auf Unterstützung angewiesen sind, von der sogenannten Asylfürsorge (wie sie Asyl suchende in einem laufenden Verfahren erhalten) befreit und unter die ordentliche Sozialhilfe gestellt. Mit der Sozialhilfe gehen auch Massnahmen zur Integrationsförderung in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt einher. Ein Gegenvorschlag der SVP, der diesen Teil aus der Gesetzesänderung ausnehmen wollte, scheiterte deutlich.

Vorläufig aufgenommene AusländerInnen (F-Ausweis) sind Menschen, die in ihren Fluchtländern zwar nicht individuell bedroht sind, aber trotzdem nicht zurückgeschafft werden können. Dies, weil ihnen entweder eine Ausreise nicht zugemutet werden kann oder etwa weil in den Heimatländern Bürgerkrieg herrscht. Für den alljährlichen Asylvorstoss nahm es SVP-Kantonsrat Christian Mettler vor zwei Jahren mit dem Volkswillen von 2011 nicht so genau, versuchte es via parlamentarische Initiative noch einmal – und kam durch: Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Kantonsrats (KSSG) schlägt nun nach zweiter Lesung vor, zum alten System mit Asylfürsorge zurückzukehren. Als Begründung werden die Kosten angegeben: Rund die Hälfte der Menschen mit F-Ausweis seien von Sozialhilfe abhängig. Vor der Referendumsabstimmung seien für den Kanton rund 4000 vorläufig Aufgenommene prognostiziert worden, Ende April 2016 seien es aber bereits 4867 gewesen. Ausserdem, so die Mehrheit der KSSG, würde die Unterstützung nach den SKOS-Richtlinien «falsche Anreize» setzen und «einen direkten Zugang in die Sozialhilfe mit geringer Aussicht auf Ablösung» bedeuten. Der Regierungsrat unterstützt den Antrag.

 

Grosse strukturelle Hürden

Für die Freiplatzaktion Zürich, die viele vorläufig Aufgenommene beim Kampf gegen den Bürokratie- und Rechtsdschungel unterstützt, ist diese Argumentation realitätsfremd. Sie warnt vor einer Prekarisierung und fordert die Mitglieder des Kantonsrats in einer Petition dazu auf, Anfang nächsten Jahres den Kommissionsantrag abzulehnen. «Die überwältigende Mehrheit der vorläufig Aufgenommenen bleibt auf Dauer in der Schweiz. Sie sind fester Bestandteil der Gesellschaft und verdienen entsprechende Rechte», sagt Samuel Häberli von der Freiplatzaktion. Dass viele von ihnen von Armut betroffen sind, sei nachvollziehbar: «Viele erhalten ja gerade deswegen den F-Status, weil sie besonders verletzlich sind und ihnen deshalb eine Rückkehr nicht zugemutet werden kann». Sie sind krank, traumatisiert – oder haben Kinder. «Sehr viele Kinder sind involviert», so Häberli. Natürlich gebe es Missbrauchsfälle, so wie überall in der Gesellschaft. Aber er weigere sich, vom Missbrauchsgedanken auszugehen. «In diesem Fall gibt es genug Gründe, zuerst den Blick auf die strukturellen Hürden zu richten. In den Beratungen erlebe ich, dass diese Menschen in ihrem Leben keineswegs stagnieren, sondern vorwärtskommen wollen.» Für Menschen mit F-Ausweis sei es aber enorm schwierig, Arbeit zu finden: «Die Formulierung ‹vorläufig› schreckt viele Arbeitgeber davor ab, jemanden einzustellen. Hinzu kommt eine hemmende Verwaltungsgebühr.»

 

Permanenter prekärer Aufenthalt

Bei guter Integration und finanzieller Unabhängigkeit können vorläufig Aufgenommene ein Härtefallgesuch stellen, um eine permanente Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) zu erhalten. Der Kanton Zürich ist bei diesem Statuswechsel bereits heute enorm restriktiv, wenn keine finanzielle Selbstständigkeit besteht, sagt Häberli. «In der Praxis gilt: Nur die, die arbeiten, sollen belohnt werden. Wenn finanziell auch nur eine Teilabhängigkeit besteht, ist ein Härtefall praktisch unmöglich.» Wenn für hilfsbedürftige Inhaber­Innen von F-Ausweisen zukünftig die Inte­grationsangebote der Sozialhilfe wegfallen, könnten noch viel weniger den Sprung in die Unabhängigkeit schaffen. Ihnen droht damit ein permanenter prekärer Aufenthalt.

Derzeit haben bereits rund 1300 Zürcher­innen und Zürcher die Petition an die KantonsrätInnen unterzeichnet (Online-Zugang untenstehend), um die Schlechterstellung abzuwenden. Ein Problem ist, dass die neuste Asylgesetzrevision vom letzten Jahr die Kantone dazu verpflichtet, vorläufig Aufgenommene mit einem tieferen Ansatz zu unterstützen – eine kantonale Gesetzesänderung wird es also sowieso geben. Samuel Häberli wünscht sich, dass der Kanton trotzdem an seiner bisherigen Praxis festhält. «Um das Gesetz zu erfüllen, reicht auch eine symbolische Minimalstkürzung.»

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