Exponentiell, hoffentlich

Und es geht weiter. Nichts hat sich verändert, das Pingpong verschärft sich sogar noch. Lächerlich. Wie wenn die Verantwortlichen sich nicht durch Zahlen, sondern durch ihre Wahrnehmung dieser Zahlen leiten liessen. Offenbar wissen noch lange nicht alle, was «linear» genau heisst oder was «exponentiell» bedeutet. Zumindest tun manche so, wie wenn sie damals in der Mathi einen Fensterplatz gehabt hätten. Dafür lassen wir uns extrem durch unser Gefühl leiten, wenn es um Einschätzung von Tendenzen geht, auch und gerade beim Wachstum. Sie kennen ja vermutlich die schöne Geschichte von der Erfindung des Schachspiels: Der Kaiser, für den das Spiel erfunden wurde, wollte den Erfinder belohnen. Dieser wollte aber nur etwas Reis dafür haben: Ein Reiskörnchen auf dem ersten Feld, zwei auf dem zweiten, vier auf dem dritten, acht auf dem vierten und so weiter. Der Kaiser lachte ihn aus. Der Hofmathematiker trat dann aber etwas näher und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf der Kaiser etwa so säuerlich reagierte wie der Bundesrat auf das Taskforce-Gemecker. Rechnen Sie selber nach, warum das so ist.

 

Exponentiell bedeutet, dass auch das Wachstum noch wächst. Vulgo explodiert. Beim Coronavirus verpacken wir diese Info in eine R-Zahl, und alles über 1 ist von Übel. Aber auch Umweltentwicklungen verlaufen häufig so. Beim Klimawandel, bei der Luftverschmutzung, bei den Lärmemissionen oder bei der Artenvielfalt berechnen wir zwar keine R-Zahl, aber so einige Kennwerte würden wohl ebenfalls bei 1 oder drüber liegen.

 

Nur würde wohl auch hier gelten: Solange ich nicht meine Nachbarn reihenweise sterben sehe, geht mir das alles am Allerwertesten vorbei. Meine Wahrnehmung ist die Grenze meiner Welt. Der Vogel mit dem Kopf im Sand lässt grüssen.

 

Soweit so schlecht. Aber vielleicht nicht nur. Denn es stellt sich doch die Frage, ob das auch umgekehrt funktioniert. Gibt es eine exponentielle Verbesserung der Lage, quasi Teufelskreis mit negativen Vorzeichen? Die Rasanz, mit der sich gewisse Biotope, dem Vernehmen nach (ich bin vorsichtig), erholt haben sollen, ist gewaltig und gibt etwas Hoffnung. Klare Kanäle in Venedig, saubere Luft in Mailand, massiv reduzierte CO2-Konzentration in Oberitalien, und so weiter. Und das nach nur gerade ein paar Monätchen reduzierter menschlicher Aktivität! Hier kommt etwas hinzu, das sich der reinen Mathematik entzieht. Nämlich, dass viele Entwicklungen nicht linear oder sonst irgendwie kurvig, sondern in Sprüngen verlaufen. Quasi Kipp-Effekte, die im schlechten Fall katastrophal sind, im guten Fall aber das Gegenteil. So wie es gelingen muss, gewisse un-umkehrbare Entwicklungen, etwa beim Artensterben zu verhindern, muss es uns gelingen, positive Kipp-Effekte zu erreichen.

 

Wir erleben das grad bei der Elektrifizierung des Autos. Ob die gut oder schlecht ist, bleibe noch schön dahingestellt, aber sie wird immerhin unweigerlich dazu führen, dass der Benziner schneller ausstirbt als das Dodo. Gleichzeitig kippen auch die Infrastrukturen und Dienstleistungsangebote der Benzinwirtschaft. Und darauf die der fossilen Wirtschaft. Dominomässig. Und exponentiell.

 

Zugegeben, das tönt furztrocken und noch sehr theoretisch. Was ich sagen will ist, dass mir die ganze lächerliche Entwicklung um Corona auch etwas Hoffnung gibt, dass nämlich exponentielle Kurven ja auch mal erfreuliche Entwicklungen und Kennwerte anzeigen können. Weil das Prinzip dasselbe ist. Und weil Kurven keine Prognosen sind. In diesem Sinne: Bonne année!

 

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.