Europäische Kälte

In Bosnien-Herzegowina droht tausenden obdachlosen Flüchtenden der Kältetod, an der EU-Aussengrenze werden sie mit menschenrechtswidrigen Methoden zurückgeprügelt, wer private Hilfe leisten will, macht sich strafbar. Ein Blick auf die Auswüchse der europäischen Migrationspolitik.

 

Florin Schütz

Das neue Jahr begann für hunderte Flüchtende in Lipa im Nordwesten von Bosnien mit einem Hungerstreik. Eine Verzweiflungstat von Menschen, die in den Tagen zuvor einmal mehr Spielball politischer Machtkämpfe geworden waren. Von Menschen, die bei klirrender Kälte und Schneefall die Nächte verbringen mussten und Angst hatten, dass sie die nächsten Tage nicht überleben würden, wenn es so weiterginge.

Das Camp in Lipa war im letzten April als kurzfristige Lösung für die Dauer der Corona-Pandemie eröffnet worden. Lipa liegt rund 25 Kilometer von der Stadt Bihac entfernt, Hauptort des Kantons Una-Sana. Seine Lage unmittelbar an der Grenze zum EU-Staat Kroatien macht den Kanton zum Anziehungspunkt für Menschen auf der Flucht. Eine Tatsache, die bei der Kantonsregierung für Missmut sorgt: «Die Migranten laufen an dir vorbei, sie brechen in Häuser ein. Nichts ist für sie heilig», so Mustafa Ružnic, Ministerpräsident von Una-Sana. Im Herbst verhängte der Kanton ein Bewegungsverbot für MigrantInnen, der lokalen Bevölkerung ist es verboten, ihnen eine Unterkunft anzubieten oder sie im Auto mitzufahren. Die Arbeit von privaten Hilfsorganisationen wurde unter dem Vorwand der Corona-Bekämpfung kriminalisiert, Verteilaktionen für Nahrung und Kleidung müssen darum häufig in der Nacht durchgeführt werden.

 

Tauziehen ohne Ergebnis

Im September entschieden sich die lokalen Behörden, die Unterkunft Bira in Bihac zu schliessen. Ziel der Aktion: Die Flüchtenden sollten aus dem Stadtbild verbannt und in das abgelegene Camp in Lipa gebracht werden. Aus der Notlösung, die für rund 1000 Personen ausgelegt war, sollte plötzlich eine Unterkunft für weit über 1000 Personen werden. Die Internationale Organisation für Migra­tion (IOM), die im Auftrag der EU für den Betrieb der Lager zuständig ist, warnte: Lipa sei nicht winterfest, weder Wasser- noch Stromanschluss waren vorhanden.

Es begann, wie so oft, ein Tauziehen zwischen den verschiedenen Institutionen. Die IOM drohte der Zentralregierung in Sarajevo mit einem Rückzug aus dem Lager, wenn keine befriedigende Lösung für die Menschen gefunden werden sollte. Diese wiederum wollte die Flüchtenden zurück ins Lager Bira verlegen, sah sich aber mit Widerstand der Behörden in Bihac konfrontiert, welche das Lager auf keinen Fall wieder öffnen wollten. Eine Lösung wurde nicht gefunden und nach zwei verstrichenen Ultimaten zog sich die IOM schliesslich am 23. Dezember aus Lipa zurück. Ein Grossteil des Lagers wurde am gleichen Tag durch einen Brand zerstört, die Ursache des Brandes ist unklar: Die IOM sprach von einzelnen MigrantInnen, die Zelte und Container angezündet hätten, mehrere BewohnerInnen des Lagers beschuldigten einen IOM-Mitarbeiter, das Feuer entfacht zu haben. So oder so: Pünktlich zu Weihnachten traf ein, wovor Hilfsorganisationen seit Wochen gewarnt hatten – rund 1200 weitere Flüchtende wurden obdachlos, ohne ausreichend Schutz vor Schnee, Kälte und Krankheiten.

 

Machtkämpfe und Korruption

Insgesamt befinden sich derzeit über 10 000 Flüchtende in Bosnien-Herzegowina. Seit der Schliessung der ungarisch-serbischen Grenze im September 2015 hat sich die Fluchtroute in der Balkanregion Richtung Westen nach Bosnien verlegt. Bleiben will zwar kaum jemand, doch die geographische Lage vor der EU-Aussengrenze hat Bosnien die undankbare Rolle eingebracht, vorläufige Endstation statt Transitstaat für tausende Flüchtende zu sein. Eine Rolle, welcher der Kleinstaat nicht gewachsen ist. Die Nachwirkungen des Krieges sind in Bosnien auch heute noch deutlich zu spüren. Armut, Arbeitslosigkeit und Auswanderung sind allgegenwärtig. 500 000 Arbeitslose auf 3,5 Millionen EinwohnerInnen zählt das Land, Hunderttausende arbeiten für Hungerlöhne. Das politische System ist hochkomplex und stark föderalistisch ausgerichtet, das Vertrauen in die politischen Institutionen kaum vorhanden – Korruption und Machtkämpfe verhindern eine fortschrittliche Politik, welche die Lebensbedingungen der Menschen verbessern könnte.

Darunter leiden auch die Flüchtenden. 2019 sorgte das Lager Vucjak in der Nähe von Bihac für weltweite Schlagzeilen. 800 Menschen lebten dort in einem inoffiziellen Lager auf einer ehemaligen Müllhalde – von den Medien gerne als «Hölle Europas» bezeichnet. Sie schliefen in Zelten auf dem gefrorenen Boden, es mangelte an Kleidung und Essen. Sanitäre Anlagen gab es nicht, genauso wenig wie medizinische Versorgung gegen Krankheiten wie die Krätze, die sich unter den Flüchtenden verbreitete. Im Dezember 2019 wurde Vucjak aufgelöst, 400 Flüchtende in Bussen in ein provisorisches Lager nach Sarajevo gebracht. Die Menschen wuschen sich an Waschstellen im Freien, bei Schnee und Minustemperaturen. Unwürdige Zustände. Und trotzdem: «Alles ist besser als Vucjak», so ein Lagerbewohner.

 

Gewalt im Schatten der Pandemie

Nach der Auflösung von Vucjak verschwand die Situation der Flüchtenden in Bosnien wieder vom Radar der Medien, besser wurde es aber nicht. Der Ausbruch der Corona-Pandemie verschärfte die Zustände in den sowieso schon überfüllten Lagern. Hygienemassnahmen einhalten in Unterkünften, wo Menschen wie in einer Sardinenbüchse aufeinander leben? Keine Chance. Neue Flüchtende wurden kaum mehr in den Lagern aufgenommen, sie lebten in ‹wilden› Camps im Grenzgebiet. Von den Behörden und der Polizei wurde die Situation auf sadistische Art und Weise ausgenutzt: Im Mai berichtete die Hilfsorganisation SOS Balkanroute, dass ein wildes Camp in Velika Kladuša, unweit der kroatischen Grenze, von einer Einheit der bosnischen Spezialeinheit gestürmt worden sei. Das gesamte Hab und Gut der Flüchtenden sei verbrannt worden. Viele hätten noch versucht, ihr Handy oder ihre Matratze vor dem Feuer zu retten. «Wir sind am Ende, am Ende…», wurde eine Helferin der Organisation zitiert. 

Der Vorfall ist kein Einzelfall, viele der obdachlosen Flüchtenden berichten über Polizeigewalt. Misshandlungen durch die Polizei sind aber nicht nur im Landesinneren ein Problem: Wer den Grenzübertritt nach Kroatien wagt, muss an der kroatischen Grenzpolizei vorbeikommen, welche schon seit Jahren kein grosses Interesse mehr an der Einhaltung von Menschenrechten zeigt. Das «Border Violence Monitoring Network», ein Zusammenschluss verschiedener NGOs, hat hunderte Fälle von exzessiver Gewalt und Misshandlungen von Grenzpolizisten gegenüber Menschen auf der Flucht gesammelt, die Schilderungen sind schockierend. «Polizisten in Skimasken zwangen uns, mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu liegen. Sobald jemand den Kopf bewegte, wurde er mit einem Stock geschlagen. Unsere Kleider und Wertsachen wurden verbrannt», wird beispielsweise ein Flüchtender zu einem Vorfall aus dem Oktober 2020 zitiert. In einem anderen Fall, in den die slowenische Grenzpolizei involviert war, wurde einem 16-jährigen Jungen von einem Polizeihund das Ohr abgebissen. Statt den Jugendlichen medizinisch zu behandeln, wurde er zurück nach Bosnien gebracht und sich selbst überlassen. Diese sogenannten «Pushbacks» sind alltäglich und sie verstossen gegen Völkerrecht: Nicht nur aufgrund der dabei angewendeten Gewalt, sondern auch, weil jede Person, die einen EU-Staat betritt, das Recht hat, einen Antrag auf Asyl zu stellen und nicht ohne dessen Prüfung abgeschoben werden darf.

 

Unterlassene Hilfe der europäischen Staaten

Etwas mehr als ein Jahr nach der Schliessung von Vucjak scheint sich die Geschichte in Bosnien derzeit zu wiederholen. «Diesen Winter werden in Bosnien Menschen sterben», so IOM-Chef Peter Van der Auweraert, und er dürfte Recht behalten, wenn sich nicht bald etwas ändert. Am 29. Dezember hätten die BewohnerInnen des verlassenen Camps Lipa zwar in Bussen in eine Militärkaserne in Sarajevo gebracht werden sollen, die Verlegungsaktion scheiterte aber am Widerstand der lokalen Bevölkerung und Behörden. Nach 30-stündigem Ausharren in den engen Bussen mussten die Menschen wieder aussteigen und in die Brandruine von Lipa zurückkehren. Inzwischen hat das Militär immerhin begonnen, beheizte Zelte aufzustellen, die längst nicht ausreichend Platz für alle bieten. Kommt dazu, dass nebst den Personen in Lipa viele weitere Flüchtende obdachlos im Wald oder in leerstehenden Gebäuden leben und wenig bis keinen Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Schutz vor der Kälte haben. Die EU spricht von 800 Personen, Hilfsorganisationen von mehreren tausend. Hilfe von offizieller Seite gibt es für diese Menschen kaum, sie sind auf die Arbeit von kleinen, privaten Organisationen angewiesen.

Derweil schieben sich die offiziellen Institutionen weiterhin gegenseitig Schuld und Verantwortung zu. In einer Medienmitteilung der Europäischen Kommission wird das administrative Versagen Bosniens als Ursache für das humanitäre Elend genannt, die EU als grosszügige Geldgeberin dargestellt. Dass Bosnien ohne die Abschottungspolitik der EU gar nicht erst vor dieser Herausforderung stünde, wird nicht erwähnt. Die einzelnen europäischen Staaten üben sich in Schweigen.

Es ist eine absurde Situation: Während die Flüchtenden in Bosnien zu erfrieren drohen und auf Lesbos im Schlamm leben, sind bei uns die Asylunterkünfte bei Weitem nicht ausgelastet. Nicht weil es weniger Menschen auf der Flucht gäbe, sondern weil immer weniger Menschen am Ziel ankommen. Diese Situation ist gewollt, sie soll als Abschreckung dienen und Menschen von einer Flucht abhalten. Das Elend und der Tod von Menschen wird als politisches Instrument genutzt – ein humanitäres Totalversagen.

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