Europa: Ein linkes Dilemma

Die Linke steckt in einem europapolitischen Dilemma. Dies macht die aktuelle Debatte über das Rahmenabkommen deutlich.

 

Cédric Wermuth

 

Das europapolitische Dilemma der Linken ist nicht neu. Im Zuge der Diskussion des Rahmenabkommens bricht es aber in aller Deutlichkeit auf: Auf der einen Seite steht die proeuropäische Überzeugung und auf der anderen Seite die nach wie vor stark neoliberal geprägte Integrationsdynamik der EU. Mir scheint es wenig sinnvoll, dieses Dilemma irgendwie leugnen oder übertünchen zu wollen. Die Situation zwingt uns vor allem zu einer sauberen Abwägung europapolitischer Schritte.

 

Die Europäische Union ist eine historische Errungenschaft ohnegleichen. Und persönlich bin ich der Überzeugung, dass die Linke an der Vision einer Republik Europa festhalten muss. Es gibt kein progressives zurück in den Nationalstaat. Das heisst aber nicht, dass jeder Integrationsschritt zu jeder Bedingung richtig ist. Das zeigt etwa Grossbritannien: Die Regierung Tony Blairs war seinerzeit stolz darauf, die Personenfreizügigkeit ohne Begleitmassnahmen eingeführt zu haben. Die darauf folgende soziale Kälte und der Dumpingdruck haben das ihrige zum Aufstieg der rechtsextremen Parteien und schliesslich zum Brexit beigetragen.

 

Schweizer Modell als Vorbild
Das Schweizer Modell hat nach dem EWR-Nein von 1992 anders funktioniert. Es bestand etwas vereinfacht in einem freisinnig-sozialdemokratischen Deal: Marktöffnung gegen sozialen Fortschritt. Genau diese Balance hat es erlaubt, die europapolitische Integration der Schweiz Schritt für Schritt zu vertiefen, auch an der Urne. Weil eine Mehrheit die Annäherung an Europa als Verbesserung ihrer Lebensperspektive erlebt hat. Das ist der entscheidende Unterschied zur Entwicklung vieler europäischer Länder. Gerade die untersten Einkommensschichten haben in diesen Ländern kaum noch Lohnzuwüchse erlebt – im Gegensatz zur Schweiz. Da­rin zeigt sich: Die flankierenden Massnahmen sind ein (verbesserungsfähiges) ziemlich effizientes Mittel gegen die neoliberalen Träume der Ausweitung des Tieflohnsektors.

 

Diese Entwicklung ist primär das Ergebnis systematischer Gewerkschaftsarbeit und der dafür zur Verfügung stehenden In­strumente. Nicht zuletzt eben die Lohnschutzmassnahmen, die sogenannten flankierenden Massnahmen. Diese haben Linke und Gewerkschaften nicht ohne Grund innenpolitisch im Austausch gegen die Personenfreizügigkeit durchgesetzt: Der schweizerische Durchschnittslohn liegt aktuell ca. bei 7200 Franken, in Deutschland kommt er auf 4100 Franken. Die Gefahr für Lohndumping ist bei diesen Differenzen enorm. Das zeigt auch eine Auswertung: Gegen 40 000 Firmen werden jedes Jahr kontrolliert, etwa die Hälfte aus dem Ausland. In Branchen mit einem allgemeinverbindlichen GAV wurden in 25 % der Fälle zu tiefe Löhne festgestellt. Die flankierenden Massnahmen spielen bereits heute eine zentrale Rolle, um flächendeckendes Lohndumping zu vermeiden.

 

Hier entscheidet sich für mich die Frage des Rahmenabkommens. Wir befinden uns in der Auseinandersetzung um die Lohnschutzmassnahmen mitten in der Debatte um die Zukunft und das Überleben Europas. Die Konfliktlinie läuft quer durch die Länder und Institutionen. Darum finde ich es fatal, wenn einige Linke nun den Schulterschluss mit der nationalistischen Rechten suchen. Das ist nicht unser Konflikt. Oder anders formuliert: In keinem Land in Europa sind heute relativ betrachtet so viele Dienstleistungserbringer tätig wie in der Schweiz. Die Zahlen zum Kontrolldispositiv zeigen, dass weder der Marktzugang in die Schweiz behindert wird (ausser für Lohndumper) und es gleichzeitig sehr effektiv Verstösse verhindert und aufdeckt. Warum also sollte das jemand aufweichen wollen? Ausser eben es geht genau darum, dieses System an sich infrage zu stellen.

 

Unser Konflikt ist zwischen jenen, die Europas Zukunft einer Sozialunion mit politischer Vertiefung sehen und jenen, für die Europa vor allem eine Erleichterung der Ausbeutung von ArbeiterInnen ist. Zu letzteren gehören Teile der EU-Kommission und der europäischen Institutionen genauso wie die aktuelle Mehrheit in Bundesrat und Parlament. Es ist kein Zufall, dass sich die Europäischen Gewerkschaften klar geäussert haben: Mit der Bitte an die Schweizer Linke, an den Lohnschutzmassnahmen um jeden Preis festzuhalten. Weil sich das Schweizer Modell bewährt hat, weil es als Modell dienen kann und weil es darum geht, ob die Deregulierung der Arbeitsmärkte in Europa weitergeht oder nicht.

 

Qualitative Wende in Europa?
Sicher, mit der Kommission Juncker ist gegenüber dem, was früher war, bereits spürbar mehr Sensibilität in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen in Brüssel eingezogen. Der im Europäischen Gewerkschaftsbund aktive Unia-Sekretär Andreas Rieger spricht von einer «qualitativen Wende»¹. Die revidierte Entsenderichtlinie zeugt davon. Sie versucht im Grundsatz das Prinzip «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» zu verankern. Die Krux liegt bei der Umsetzung in den Staaten und die lässt an vielen Orten wenig gutes erahnen. Der Europäische Gerichtshof hat erst gerade wieder im Falle von Österreich klar gemacht, dass er nicht daran denkt, die kollektiven ArbeitnehmerInnenrechte und die Freiheit der Unternehmer gleich zu werten. Im Gegenteil, letzteres geht offenbar vor.

 

Die Gemengelage ist komplexer als das, was uns die meisten Schlagzeilen weismachen wollen. Es geht bei einem Ja zu diesem – ich betone, zu diesem – Rahmenabkommen nicht um einen Konflikt zwischen Pro- und AntieuropäerInnen. Sondern um die Frage, wie eine Integration Europas weitergehen soll. Die Lohnschutzmassnahmen diesem Vertrag zu opfern, wäre naiv. Das absehbare Niveau von noch erlaubten flankierenden Massnahmen könnte Lohndumping in der Breite kaum noch verhindern. Ein Beispiel wäre die weitgehende Einschränkung der Kaution, die nur noch für Firmen erhoben werden soll, die bereits einmal negativ aufgefallen sind. Damit entfällt ein zentraler Präventionsmechanismus, der auch durch einen neuen inländischen GAV nicht korrigiert werden könnte.

 

Das würde nicht zu mehr Europa führen, sondern zu einem Zerfall der proeuropäi­schen Mehrheit in diesem Land. Ein Nein zu diesem Vertrag ist eine Absage an die Neoliberalen in Bern und Brüssel und keine Absage an Europa. Und es muss gleichzeitig ein Angebot sein für einen neuen oder verbesserten Vertrag. Sicher, die Fronten sind aktuell verhärtet. Das liegt übrigens primär nicht an Brüssel, sondern an der katastrophalen Führungslosigeit des Bundesrates. Aber ein Nein zu einem Rahmenabkommen vor dem Volk –und das wäre das aktuelle Ergebnis – würde uns europapolitisch um Jahrzehnte zurückwerfen. Daran kann letztlich niemand ein Interesse haben, weder in Brüssel noch in Bern. Manchmal ist, so paradox es sein kurzfristig scheinen mag, ein Nein eben auch das
bessere Ja.

 

¹ http://www.denknetz.ch/wp-content/uploads/2019/02/2019-02-05-Rahmenabkommen-CH-EU.pdf

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