Etwas mehr Gelassenheit

Der Überfall Russlands auf die Ukraine rief nach grossen Worten und verführt zu mitunter durchsichtigen Manövern, wie etwa die Erklärung der Grünliberalen am letzten Montag im Kantonsrat, in der sie den Regierungsrat aufforderten, ihr Parteiprogramm zur Verhinderung eines Energienotstandes haargenau sofort umzusetzen. Ein Teil der Grünen möchte autofreie Sonntage zur Behebung der gleichen Krise. Nichts gegen autofreie Sonntage, aber dazu braucht es den Krieg in der Ukraine wahrlich nicht. Mehr Substanz haben – oder hätten zumindest – die Forderungen der Bürgerlichen nach einer Erhöhung der Militärausgaben. Das ‹hätten› bezieht sich auf den Opportunismus der Subitogelderhöhung und auf das Sperrfeuer gegen die Anti-F-35-Flugzeuginitiative. Wäre ich Mitglied des Initiativkomitees würde ich den Antrag auf Abbruch der Sammlung stellen. Es ergibt in meinen Augen keinen Sinn mehr, in einen Abstimmungskampf zu laufen, den man mit grosser Wahrscheinlichkeit hoch verliert. Für die Weiterführung – abgesehen vom Festhalten an Überzeugungen auch im Gegenwind – sprechen allenfalls die Unterstellungen der GegnerInnen, inklusive Bundesrätin Viola Amherd. Die neuen Flugzeuge werden frühestens gegen Ende des laufenden Jahrzehnts geliefert, sie ändern somit an einer aktuellen Bedrohung nichts. Dass ausgerechnet jene, die im Zusammenhang mit der Ukraine so viel von Demokratie reden und Druck auf einen Abbruch eines demokratischen Rechts ausüben, passt.

 

Aktuell zeigen der Überfall Russlands und die Gegenwehr der Ukraine, dass konventionelle Kriege auch in Europa wieder möglich sind. Ohne dass ich irgendeinen Vergleich zwischen Putin und Hitler ziehen möchte, erinnert mich der Überfall Russlands vor allem an den Überfall Deutschlands auf Polen 1939. Hitler marschierte mit seinem Heer ein, weil er das Land für sein Reich wollte. Die Militärs folgten ihm, die Bevölkerung, die an seinem Aufkommen nicht ganz unbeteiligt gewesen war, hatte längst nichts mehr dazu zu sagen, auch wenn die deutsche Kriegsbegeisterung mässig war. Widerstand bedeutete im besten Fall Gefängnis. Beim Überfall Putins besteht die grösste Differenz bisher darin, dass sein Militär weniger tüchtig ist. Der Widerstand der Ukraine war wirksamer als erwartet und es liegt auf der Hand, dass dieser erfolgreiche Widerstand die Position des Militärs bei der Sicherheitsstrategie auch bei uns verbessert. Mehr Geld und mehr geistigen Aufwand auch für die militärische Sicherheit ist derzeit eine ernsthafte Option. Der Kriegsausgang in der Ukraine ist ausgesprochen unsicher. Auch der Einsatz von biologischen Waffen oder gar einer Atombombe sind nicht ausgeschlossen. Darum finde ich es sehr kühn bis fahrlässig, bereits eine neue Zeit auszurufen, bevor feststeht, ob der Krieg in einer totalen Zerstörung der Ukraine, dem Sturz Putins oder in einer Art Frieden oder Koexistenz endet. Der Krieg in der Ukraine läutete möglicherweise im späteren Rückblick eine Zeitwende ein. In der Gegenwart finde ich es kurzsichtig, zu prophezeihen, in welche Richtung es geht oder den Überfall zur Realisierung alter Wünsche zu nutzen. Dazu nur ein paar Bemerkungen:

 

Wenn Alt-Bundesrat Christoph Blocher eine Volksinitiative zur ewigwährenden Neutralität lancieren will und auch andere sich seitenlang den Kopf über die Neutralität der Schweiz zerbrechen, so bewegen sie sich im besten Fall auf einem Nebenschauplatz. In der Ukraine überfiel ein Land gegen alle Regeln des Völkerrechts ein anderes. Sich mit der Beteiligung an Sanktionen im Einverständnis mit der UNO dagegen zu wehren, ist ein Einstehen für das Völkerrecht und keine Aufgabe der Neutralität. Die Vermittlerrolle der Schweiz wird zudem stark überschätzt. Es fehlt nicht an Vermittlern, sondern bisher am Willen Putins, eine Vermittlung zu akzeptieren. Dass die Schweiz wie die Ukraine militärisch angegriffen wird (wohl auch im unerwarteten Fall einer Alleinregierung der Kommunisten in ihr), ist sehr unwahrscheinlich. Wenn, dann wäre sie an einem grossen Krieg beteiligt, müsste sich also militärisch in die EU oder in die Nato integrieren. Diese Gedankenspiele existieren und sind sicher teilweise auch Planungsrealität. Diese Sicherheitsüberlegungen, wie dies die SP-EU-Sektion andeutet, als weiteres Argument für einen EU-Beitritt zu lancieren, gehört für mich auch nicht gerade zur Weisheit letzten Schlusses. Es existieren wahrlich bessere Gründe für einen Beitritt zur EU.

 

In der Ukraine wird auch nicht die Demokratie verteidigt, wie auch von den Ukrainern behauptet wird. Es geht darum, dass kein Land ein anderes überfallen darf, sei es nun demokratisch oder nicht. Russland gehört zu Europa, ob es uns passt oder nicht. Russland war in seiner ganzen Geschichte noch nie eine Demokratie, meist nicht einmal ein Rechtsstaat. Gegenwärtig helfen die Polen den Ukrainern wohl am meisten. Polen ärgerte noch vor wenigen Monaten die EU wegen seines fragwürdigen Demokratieverständnisses. In der Ukraine geht es um das Schweigen der Waffen, nicht um die Demokratie in Russland. Möglicherweise beginnt so etwas wie ein zweiter Kalter Krieg. Keine erfreuliche Aussicht. Ich erlebte einen Grossteil des ersten bewusst mit und wünsche mir diese Zeit sicher nicht zurück. Das Denken war beiderseits so eng und moralinsauer wie selten. Wer sich heute über einen zu engen Mainstream beklagt, kennt die Enge der 1950er- und 1960er-Jahre nicht. Die ganzen Friedensbemühungen und die Ostpolitik etwa der Deutschen waren richtig und nicht etwa naiv und sie bleiben – wie auch eine militärische Aufrüstung – eine Option.

 

Selbstverständlich sind der Handlungsdrang (die Anbauschlacht der Bauern lasse ich aus) und die Angst, etwas zu verpassen oder vergessen zu gehen, gross. Dennoch: Etwas mehr Gelassenheit, Abwarten und Nachdenken, statt jeden Tag eine neue Katastrophenmeldung (Benzinpreis, Verhungern der halben Welt) zu vermelden, wäre eine ganz brauchbare Alternative. Zumal die Schweiz mit der Aufnahme der Flüchtlinge und ihrer eventuell längeren Verbleibszeit eine sinnvolle Aufgabe kennt. Ein Letztes: Wäre ich Präsident der SP oder der Grünen, würde ich leise versuchen, ein stilles Treffen mit den andern PräsidentInnen zu arrangieren. Ohne mediale Präsenz und Begleitmusik. Es gibt mehr als genug dringende Themen und eine enorme Chance, etwa Sicherheit und Energie so zu einer Lösung zu vereinen, dass alle oder zumindest viele Interessen befriedigt werden können.

 

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