Es wird anders, Luisa.
Ich wollte alleine sein, dann kamst du. Ich habe dich fast über den Haufen gerannt, so schnell war ich unterwegs, da, an der Ecke Streulistrasse und Hofacker, ich bog rechts ab, schaute aber auf den Emmaus gegenüber, das Brockenhaus, in das ich schon seit Jahren möchte, aber immer ist es zu, genau dann, wenn ich daran vorbeigehe, an dieser Ecke habe ich dich fast umgerannt und dann «sorry» gesagt, geschrien, weil ich doch immer so laut Musik höre beim Joggen, und es brauchte nicht einmal einen zweiten Blick, ich habe dich sofort erkannt. Luisa. Trotz Maske, denn es stimmt gar nicht, dass man Menschen nun weniger gut erkennt damit, man weiss, wer es ist, oft einfach wegen des Gangs, wegen der Art, wie jemand den Kopf senkt und etwas auf dem Handy liest, an den Augen. «Luisa», sagte ich also, nahm die Kopfhörer ab, und du hast die Maske weggemacht, damit man dein Gesicht ganz sieht, und hast gelächelt.
Es sind Jahre vergangen, Jahrzehnte sogar, seit wir zusammen gearbeitet haben in dieser Firma, in der du zuerst eine andere Funktion hattest, dann für einige Wochen, oder waren es Monate, verschwunden bist und schliesslich zurückkamst, in die Administration, in mein Büro. Was du hattest, wusste niemand so genau, vermutlich irgendeinen Zusammenbruch, wie es das so gibt. Du warst immer pünktlich, immer so organisiert, nur Stress hast du nicht gut vertragen. Die Chefin hatte dich in der Hand, du warst ihr ausgeliefert, wohl weil du dachtest, dass dich niemand sonst anstellt, mit deiner Lücke im CV. Ich weiss noch, dass ich immer versucht habe, dich zum Lachen zu bringen.
Und jetzt standest du vor mir, und ich sah dir deine Einsamkeit einfach so an. Sie hing an dir wie ein schlecht sitzendes Kleid, etwas stimmte nicht, man konnte es nur nicht gleich benennen. Wir haben uns ein wenig unterhalten. Du lebst immer noch so wie damals, also allein, mit dem gleichen Job, dem gleichen Tagesablauf, und deine Hände zitterten wie früher. Du kamst mir vor wie eine streunende Katze, und ich hätte dich am liebsten mitgenommen oder dir zumindest versprochen, mich zu kümmern. Aber dann hatte ich Angst, dass ich so ein Versprechen ja niemals würde halten können, mein Leben ist zu voll. Heute wollte ich alleine sein, Ruhe haben, ich kann mir das aussuchen. Die Einsamkeit will man nicht, und das ist der Unterschied, sagte eine Frau in einem Dokumentarfilm, der Anfang Jahr im Schweizer Fernsehen kam. «Tabu Einsamkeit» heisst er. Mehr als jeder dritte Mensch in unserem Land ist einsam. Es passiert leicht, in unserer Gesellschaft einsam zu sein. Man wolle einfach so gemocht werden, wie man ist, sagt die Filmerin des Doks, aber das sei so schwierig in unserer Zweckoptimierungsgesellschaft. Das Aussehen kann reichen, um schon als Kind zur einsamen Einzelgängerin zu werden. Wenig Geld schliesst aus, lässt einen nicht teilhaben am Feierabendbier, am Zmittag mit den Arbeitskollegen im Restaurant und schon ist man raus aus der Gemeinschaft. Ein Schicksalsschlag, eine Krankheit, eine Depression, eine Sensibilität, die einen ein wenig anders macht als die anderen, das kann reichen. Einsam ist man im Verborgenen.
Einsamkeit ist ein Tabu. Und weil ich Luisa getroffen habe und weil Corona ist und weil wir doch jetzt eine neue Solidarität haben in unserer Gesellschaft, ein neues Bewusstsein, hoffe ich, glaube ich, dass es jetzt anders wird. Dann ist bald niemand mehr alleine mit der Einsamkeit.