«Es war eine Zeit voller Überraschungen»

 

Nach 36 Jahren Bundesbern tritt der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner auf Ende Jahr zurück. Im Gespräch mit Roxane Steiger blickt er auf eine Politikkarriere zurück und gibt Einblicke in die Zukunft.

 

Nach 36 Jahren im Bundeshaus treten Sie auf Ende Jahr zurück. Weshalb dieser Zeitpunkt? 

Paul Rechsteiner: Ich war insgesamt 45 Jahre im Parlament – zunächst im St. Galler Stadtparlament und seit 36 Jahren im Bundeshaus. Als ich 1986 in den Nationalrat gewählt wurde, hätte ich mir nie vorstellen können, was danach auf mich zukommen würde. Weder, dass ich zwölf Jahre später Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, noch, dass ich 2011 Ständerat würde. Es war für mich eine Zeit voller Überraschungen. Und irgendwann ist es so weit: Ich wurde 70 Jahre alt. Die Kunst liegt nicht nur darin, anzufangen, sondern auch darin, wie und wann man aufhört. Der Zeitpunkt meines Rücktritts hat auch mit der St. Galler Konstellation zu tun, die sehr anspruchsvoll ist. Jetzt ist der letzte Zeitpunkt für eine Einer-Vakanz.

 

Sie wollten, dass es im Kanton St. Gallen zu einer separaten Ersatzwahl vor den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2023 kommt. Wieso?

Ich wollte eine St. Gallische Wahl, die nicht zeitgleich zu den parteipolitisch geprägten eidgenössischen Wahlen stattfindet. Wenn man die Wahl im Kanton St. Gallen rein parteipolitisch betrachtet, hätte die SP mit 12-14 Prozent WählerInnenanteil nur sehr kleine Chancen. Mit Nationalrätin Barbara Gysi haben wir eine äusserst erfahrene Kandidatin. Als Gesicht der Pflegeinitiative war sie sehr erfolgreich. Mit dieser Einer-Vakanz hat sie nun eine ganz andere Ausgangslage, als wenn die Wahl rein parteipolitisch ausgetragen würde, da es sich um eine Personenwahl handelt. 

 

Für die SP ist die Situation im Ständerat schon jetzt ziemlich schwierig. Der Sitz von Christian Levrat ist bereits weg, jener des abtretenden Hans Stöckli wackelt. Auch im Nationalrat soll die SP WählerInnenanteile verlieren. Beunruhigt Sie das? 

Wahlen sind zum Glück unberechenbar. Die Medien haben mir vor meiner Wahl als Ständerat keine Chancen gegeben. Wir leben von Überraschungen. Gerade wenn man die Ostschweiz anschaut, die für Ständeratswahlen ein schwieriges Pflaster ist. Vor drei Jahren kam im Ständerat der Glarner Matthias Zopfi von den Grünen dazu. Auch mit ihm hatte niemand gerechnet. Wir müssen also in die Offensive gehen und mit unserer Kandidatur überzeugen. Seit meiner Wahl 2011 haben sich die Verhältnisse im Ständerat deutlich verschoben. Die SP war bis 2011 eine Randgruppe im Ständerat – wie heute die SVP. Seit 2011 ist sie ein Machtfaktor – heute mit den Grünen zusammen. In dieser Zeit hat der Ständerat an Bedeutung gewonnen. Im Gefüge der Insti­tutionen hat er positive Lösungen herbeigeführt, die immer wieder entscheidend waren. Zum Beispiel nach der fatalen Annahme der Masseneinwanderungsinitiative der SVP. Der Bundesrat hatte die Kontingentierung vorgeschlagen, was einen Bruch mit der Personenfreizügigkeit und das Ende der Bilateralen gewesen wäre. Erst im Ständerat konnten wir das korrigieren.

 

Bei den Grünen kandidiert Franziska Ryser und bei der SP Barbara Gysi. Wenn es darum geht, die progressiven Kräfte im Ständerat zu stärken, schwächt man sie dann nicht, indem man die progressiven WählerInnen auf zwei Kandidatinnen aufteilt? 

Es wird zwei Wahlgänge geben. Im ersten werden die Plätze bezogen. Entscheidend ist der zweite Wahlgang. Dann werden sich die progressiven Reihen schliessen. Meine Wahl wäre nie möglich gewesen, ohne dass ich bei der Vertretung der St. Galler Anliegen für viele WählerInnen überzeugend war. Der Ständerat bietet viele Möglichkeiten, die man im Nationalrat weniger hat, um die Interessen einer Region zu vertreten. Allem voran in der Bahnpolitik. 

 

Wie waren die Reaktionen auf Ihren Rücktritt?

Eine beeindruckende Welle auf der Strasse, die ich auch schon bei den Kandidaturen als National- und Ständerat erfahren habe. Mit dem Rücktritt war die Resonanz noch grösser. Das war sehr berührend. Es hat auch gezeigt, wie wichtig es ist, eine glaubwürdige Politik für viele gemacht zu haben, auch wenn ich oft im Gegenwind gestanden bin. Die Reaktionen auf der Strasse zeigen auch, dass wir mit unserer Politik bei vielen Leuten eine grössere Resonanz haben als in den Medien. 

 

Die Wintersession im Dezember wird für Sie die letzte Session im Bundeshaus sein. Gibt es etwas, was Sie im Parlament noch angehen möchten?

An Themen und Engagement fehlt es mir nicht. Ich setze mich weiterhin für einen starken Sozialstaat sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen ein. Auch Grundrechtsfragen waren mir immer wichtig. In den letzten Jahren habe ich nur noch wenige parlamentarische Vorstösse eingereicht. Gewissermassen das Vermächtnis ist der Vorstoss zum Ius soli, also zum Bürgerrecht für alle, die in der Schweiz geboren sind, da aufwachsen, in die Schule gehen und arbeiten. Hier hat die Schweiz ein grosses Demokratiedefizit. Es geht um einen grossen Kampf für unsere Zukunft. Jetzt wird das Anliegen mit der Volksinitiative der Aktion Vierviertel aufgenommen. Es kann nicht sein, dass in unserer Demokratie über zwei Millionen Menschen kein Stimm- und Wahlrecht haben, obwohl sie Teil der Bevölkerung sind. Das ist, als würde man die gesamte Romandie von den politischen Rechten ausschliessen. 

 

Gibt es besondere Erfolgserlebnisse, die Ihnen aus Ihrer politischen Laufbahn bleiben? 

Vielleicht muss man zwischen den ersten 15 Jahren und den späteren Jahren unterscheiden. In den ersten 15 Jahren gelang es zum Beispiel, die Ratifikation der UNO-Menschenrechtskonvention zu erreichen, der wichtigsten Grundrechtskonvention der Welt. Das geschah in einer Zeit des Aufbruchs. Damals war ich auch Präsident der schweizerischen Anti-Apartheidbewegung. Christoph Blocher stand als Präsident der Apartheidfreunde auf der anderen Seite. Mit den Schweizer Banken, die das Apartheidregime stützten, hatten wir mächtige Gegner. Damals kämpften wir, wenn auch vergeblich, für Sanktionen. Das erinnert an die heutigen Diskussionen rund um die Ukraine. Als Solidaritätsbewegung konnten wir aber zum Fall der Apartheid beitragen. Zu einem grossen Aufbruch kam es auch nach dem Fall der Berliner Mauer. In dieser neuen weltpolitischen Konstellation gelang es uns auch in der Schweiz, den Überwachungsstaat vorübergehend zu brechen. Unter anderem mit der Einsicht in die geheimen Fichen, mit denen hunderttausende kritisch denkender Menschen registriert wurden.

 

Die zweite Phase begann mit dem Präsidium des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Der wichtigste Erfolg in dieser Zeit war die Personenfreizügigkeit mit den flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne. Gegenüber dem System von Kontingenten und dem diskriminierenden Saisonnierstatut, das den Arbeitsmarkt seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt hatte, war das eine kleine Revolution. Man wollte dazumal zwar die Arbeitskräfte, aber nicht die Menschen. Sie durften keine Kinder, keine Familie haben. Das war eine Schande für die Schweiz. Dieses Unrecht konnten wir mit der Freizügigkeit und dem neuen nichtdiskriminierenden Lohnschutz eliminieren. 

 

Nun zu den weniger erfreulichen Episoden: Die AHV2020 ist gescheitert, nun wurde die AHV21-Vorlage angenommen. Als Sozialpolitiker und ehemaliger Präsident des Gewerkschaftsbundes muss dies sicherlich eine schmerzliche Niederlage gewesen sein …

Es war umso mehr ein Jammer, als auch linke Kräfte die AHV2020 bekämpft hatten. Es wäre die erste Rentenerhöhung seit Jahrzehnten gewesen, die an einer Multiplikation von Gegnern mit unterschiedlichsten Motiven knapp gescheitert ist. Als Ergebnis haben wir jetzt Rentenalter 65 für die Frauen, aber mit viel schlechteren Kompensationen und ohne dass wir eine Rentenerhöhung erreicht hätten. Die Abstimmung zu AHV21 zeigt aber, dass die SP und die Gewerkschaften auf der richtigen Seite stehen. Sie haben die Interessen der Frauen und der Leute mit tieferen Löhnen vertreten. Jetzt muss die Frage der Rentenhöhe neu angegangen werden. Das ist nur via AHV möglich, die für die tieferen und mittleren Einkommen ein sensationelles Preis-Leistungs-Verhältnis hat.

 

Wie geht es jetzt weiter mit der AHV?

Der Vorschlag einer 13. AHV-Rente liegt auf dem Tisch. Ich bin gespannt, wie diese Auseinandersetzung verlaufen wird. Im Parlament sind solche Anliegen normalerweise chancenlos, aber neuerdings tut sich auch bei der Mitte etwas. Mit der Mitte ist es uns gelungen, den vollständigen Teuerungsausgleich bei den Renten in Form von Vorstössen zu überweisen. Das wäre bis vor Kurzem unmöglich gewesen.

 

Im Sommer 2018 haben Sie bei den Verhandlungen für das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU den Lohnschutz vehement verteidigt. Die SP hat am diesjährigen Parteitag nun ein EU-Papier verabschiedet. Geht das in die richtige Richtung?

Das Europadossier bleibt schwierig. Nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative ist es im Ständerat gelungen, die Initiative nichtdiskriminierend umzusetzen, so dass sie nicht zu einer Beendigung der bilateralen Verträge und der Personenfreizügigkeit führte. In einer breiten Koalition konnten wir nachher die Begrenzungsinitiative der SVP besiegen, die die Personenfreizügigkeit künden wollte. Darauf müssen wir aufbauen. Der Rahmenvertrag war eine Idee, die ursprünglich im EDA entwickelt wurde. Von einer Strategie kann man dabei aber kaum sprechen. Erst später hat die EU-Kommission gemerkt, dass das für sie interessant sein könnte. Das Abkommen war aber aus verschiedenen Gründen nicht tragfähig. Wenn man in die Zukunft schaut, ist die europäische Orientierung der SP für die Lösungssuche zentral. Wir brauchen aber eine umsichtige Politik. Erfolgreich war man immer, wenn die pro-europäischen Kräfte von SP bis FDP sich auf etwas geeinigt haben. Die Bedingungen dafür sind aber, dass die sozialen Interessen gewahrt bleiben. Eine grosse Gefahr ist die forcierte Liberalisierungspolitik der EU der letzten Jahre, zum Beispiel bei der Bahnliberalisierung oder der Strommarktliberalisierung. Wenn wir das übernehmen würden, ginge es in eine völlig falsche Richtung und es wäre in der Schweiz ohnehin chancenlos. Der Weg zu einer erfolgreichen Weiterentwicklung des Verhältnisses mit der EU muss sich an den realen Interessen der Bevölkerung orientieren. Der Lohnschutz ist dafür ein gutes Beispiel, weil das auch im Interesse der Arbeitnehmenden anderer europäischer Länder liegt.

 

Das Schlagwort der Stunde ist der EU-Beitritt …

Jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt für diese Debatte. Allerdings war in meinen 36 Jahren Bundesbern fast alles Wichtige unvorhersehbar. 1986 herrschte Kalter Krieg. Niemand hätte vorausgesehen, dass 1989 die Mauer fallen würde. Am 24. Februar dieses Jahres überfiel Putin die Ukraine. Auch dies war für viele unvorstellbar. Solche Ereignisse haben die Grundannahmen und -voraussetzungen der Politik verschoben. Die Geschichte ist nach vorne weit offen. Die Aufgabe der Linken ist, aus einer klaren Grundorientierung heraus für soziale, solidarische und ökologische Entscheide einzutreten. 

 

Was machen Sie nach Ihrem Rücktritt?

Ich bin nach wie vor als Anwalt tätig und führe mein Engagement bei der Paul-Grü­ninger-Stiftung weiter. Ich bleibe ein politischer Mensch. Die Aufgaben der Linken sind enorm. Es ist ein Drama, was in Europa mit der Sozialdemokratie geschehen ist, obwohl wir in der Schweiz vergleichbar gut dastehen. Die SP hat eine klar soziale und ökologische Orientierung und ist die Partei der Gleichstellung. Es besteht aber weiterhin Luft nach oben. Schliesslich bleibe ich den Bewegungen, in denen ich mich engagiert habe, verbunden. Solange ich fit bin, werde ich versuchen, meinen Beitrag zu leisten.

 

 

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