- Serie zur Asylpolitik – Teil 4
Es kommen die Richtigen. Es kommen Schutzbedürftige.
Der heutige SVP-Slogan «Es kommen zu viele. Und es kommen die falschen» ist ein Echo der Schweizer Flüchtlingsabwehr im Zweiten Weltkrieg. Im ersten Teil klingt der Titel von Alfred A. Häslers Buch an über die vorab für Jüd:innen tödliche Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs. Es heisst «Das Boot ist voll».
Ist das Boot voll? Tatsächlich sind viele ukranische Kriegsflüchtlinge in der Schweiz. Aktuell gut 66 000 Geflüchtete mit einem aktiven Status S. Diese Ukrainer:innen machen mittlerweile einen Drittel aller Personen des Asylbereichs aus. Ihre hilfsbereite Aufnahme auch durch die Zivilbevölkerung zeigt aber: Gerade bei der grössten Gruppe an Menschen, welche aktuell Schutz suchen, findet eine klare Mehrheit nicht, das seien nun zu viele. Zu recht.
Im zweiten Teil des Slogans wird suggeriert: Es kämen ja vorab Menschen ohne Schutzbedarf. Das ist schlicht falsch. Und zwar auch dann, wenn man die Menschen aus der Ukraine ausblendet. Um das zu verstehen, muss man allerdings ein wenig in die Tiefen des schweizerischen Asylrechts und des Dublin-Abkommens eintauchen.
Asyl kriegen nur individuell Verfolgte…
Unser Asylgesetz steht immer noch in der Tradition des individuellen Asyls für einen einzelnen politisch verfolgten Menschen. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine oder Syrien erhalten in der Schweiz dagegen in der Regel einen ablehnenden Asylentscheid.
«Personen (…), die ohne individuell verfolgt zu sein den Folgen von Krieg, Bürgerkrieg, Unruhen, Unterdrückung oder verbreiteter schwerer Menschenrechtsverletzungen in ihren Heimatländern entfliehen (…) sind gemäss heutiger Praxis keine Flüchtlinge im Sinne des Asylgesetzes oder der Flüchtlingskonvention, können aber aus humanitären Erwägungen Schutz erhalten» stellt das Handbuch Asyl und Rückkehr des Staatssekretariats für Migration SEM klar. Diese Personen erhalten also einen negativen Asylentscheid. Und erst danach als Ersatzmassnahme für die Wegweisung eine sogenannte «vorläufige Aufnahme». Denn eine Ausschaffung dieser Personen würde gegen das völkerrechtliche Non-Refoulement-Prinzip verstossen, das auch in unserer Bundesverfassung festgeschrieben ist: Keine Person darf ausgeschafft werden an einen Ort, an dem ihr Folter oder unmenschliche Behandlung droht.
Darum ist es grobe Irreführung, wenn SVP und Freisinn drei Viertel der Asylsuchenden als falsche Flüchtlinge bezeichnet. Nicht die Asylquote, sondern die Schutzquote, welche Asyl- und vorläufige Aufnahme zusammenfasst, zeigt, ob die Richtigen, ob tatsächlich schutzbedürftige Menschen bei uns Schutz suchen oder nicht.
…welche nirgends in Europa ein Gesuch stellten
Die Schweiz hat zudem das Dublin-Abkommen der EU mitunterzeichnet. Konkret heisst dies: Asylsuchende, deren Fingerabdrücke bereits in einem anderen Dublin-Staat erfasst sind, erhalten hier normalerweise einen Nichteintretensentscheid. Weil die Schweiz nicht dafür zuständig ist, materiell über ihren Schutzbedarf zu entscheiden. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie keinen Schutz brauchen.
Die Schutzquote des SEM, welche den rein formellen Nichteintretensentscheid auch als negativen Entscheid wertet, ist irreführend. Auch auf europäischer Ebene rechnet Eurostat diese formellen Dublin-Entscheide aus der Statistik heraus und führt jeweils die nationale Schutzquote an.
Und diese nationale Schutzquote der Schweiz, also der Anteil jener Asylsuchenden, bei denen in der Schweiz in einem materiellen Verfahren schon in erster Instanz ein Schutzbedarf festgestellt wird, ist hoch. Im letzten Jahrzehnt betrug er im Schnitt 75 Prozent. Das war übrigens nicht immer so. Aufgrund der Zahlen in der Publikation «Asylpraxis der Schweiz von 1979 bis 2019» des SEM betrug die nationale Schutzquote der Schweiz in den gut drei Jahrzehnten 1986-2019 im Schnitt nur knapp 43 Prozent.
Das Boot ist nicht voll
Es kommen die Richtigen. Und wenn wir einen Schritt zurück machen, dann wird auch klar: Das Boot ist nicht voll. In den letzten dreissig Jahren wurden pro Jahr im Schnitt weniger als 20 000 primäre Asylgesuche gestellt. Jeweils bei Kriegen und Verfolgung stiegen die Zahlen und sanken danach wieder: Kosovo-Krieg, Bürgerkrieg in Syrien, und aktuell die autoritären Entwicklungen in Afghanistan und in der Türkei. Dazu die Ukraine-Flüchtlinge.
Wieviel sind 20 000 Gesuche? Machen wir den Vergleich: Gemäss Zuwanderungsstatistik 2022 wanderten alleine zu Erwerbszwecken fast 85 000 Personen ein, gut 40 000 kamen im Rahmen des Familiennachzugs und fast 17 000 für eine Aus- und Weiterbildung in die Schweiz.