- Gedanken zur Woche
Es könnte schlimmer sein
Vielleicht bin ich mittlerweile so pessimistisch geworden mit dem Zustand der Welt, dass mich der vergangene Sonntag eigentlich mehr erleichterte als erschreckte. Deutschland hat gewählt und das Resultat entsprach ungefähr jenem, das die meisten Umfragen vorhergesehen haben. Die CDU lag am Ende bei 28,5 Prozent und damit wohl unter ihren eigenen Erwartungen. Und ist dennoch klare Siegerin. Die AfD landete bei 20,8 Prozent. Das ist besser, als es zu Beginn bei der Hochrechnung ausgesehen hat, aber war im Rahmen dessen, was die Umfragen vorhergesehen hatten. Angesichts der Wahlhilfe von Musk und den verschiedenen Anschlägen im Vorfeld hätte man sich ein schlimmeres Resultat vorstellen können. Die SPD machte mit 16,4 Prozent ein blamables Resultat, aber auch eines, dass nicht unerwartet kam. Auch die Grünen sind unzufrieden, mit 11,6 Prozent lagen sie unter ihren Erwartungen. Die Linke hingegen jubelte, mit 8,8 Prozent hatte sich die einst schon totgesagte Partei wieder in den Bundestag gekämpft. Deren Abspaltung, das Bündnis Sahra Wagenknecht schafft es hingegen nicht, nur rund 13 000 Stimmen fehlen für den Einzug in den Bundestag. Deutlicher war es bei der FDP, die ebenfalls aus dem Bundestag fliegt.
Richtig zufrieden können also die meisten Parteien nicht sein, und in den meisten Fällen ist es auch nicht gänzlich unverdient. Für die SPD ist das Resultat ein Debakel, aber es war eines mit Ansage, die vermutlich allem ausser einem bewusst waren. Dass sich die SPD mit der Wiederkandidatur von Olaf Scholz keinen Gefallen tat, war klar. Der Kanzler konnte aus seinem Sieg vor vier Jahren kaum etwas herausholen, weder inhaltlich noch kommunikativ. Dass die SPD noch eine Zeitlang öffentlich darüber nachgedacht hat, Scholz durch Verteidigungsminister Boris Pistorius zu ersetzen, hat sicher auch nicht geholfen. Nur wäre das Resultat wohl auch ohne diese Diskussion ziemlich ähnlich herausgekommen.
Auch die Grünen wurden für ihre Regierungsbeteiligung bestraft. Robert Habeck, einst grosser Superstar der deutschen Grünen, verkündigte seinen Rückzug aus der Politik. Habeck und die Grünen wurden in den letzten Jahren gezielt zu Feindbildern von rechts gemacht (teilweise gar mit Unterstützung aus Moskau). Habeck als Wirtschaftsminister sei untragbar, meinten Markus Söder von der CDU und Christian Lindner von der FDP, von Alice Weidel (AfD) ganz zu schweigen. Wie man einen gemässigten Grünen (Habeck gehört dem Realo-Flügel an) zu einem grossen Schreckgespenst für Rechtskonservative machen konnte, gehört zu einer der absurderen Facetten des deutschen Wahlkampfs.
Der Misserfolg der Ampel (die nicht alles nur schlecht gemacht hat, aber ihre Erfolge offenkundig nicht verkaufen konnte) lag vor allem an einem Mann: Christian Lindner. Dessen politische Karriere ist nun auch zu Ende, vermisst wird er kaum. «Dass der ehemalige Finanzminister sich jetzt aus der Politik zurückzieht, ist ein Gewinn nicht nur für die politische Landschaft Deutschlands insgesamt, sondern auch für seine Partei», schreibt Stefan Kuzmany im ‹Spiegel› unter dem Titel «Danke für Nichts». Lindner habe immer sich selbst über das Wohl des Landes gestellt. 2017 verhinderte er eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP, weil er Angst hatte, von Angela Merkel an die Wand gespielt zu werden. 2021 konnte er sich nicht mehr verweigern, weil man sich wohl sonst die Frage gestellt hätte, wofür man die FDP überhaupt wählt. Doch Lindner sabotierte die fragile Koalition von Anfang an tatkräftig mit Indiskretionen und verzögerte Entscheidungen mit immer neuen Forderungen. Den Todesstoss versetzte aber das Bundesverfassungsgericht: Mit einer starren Auslegung der Schuldenbremse nahm sie der Regierung den finanziellen Handlungsspielraum. Damit brachen die Widersprüche offen aus, weil es nicht mehr möglich war, die Schuldenbremse einzuhalten und dennoch in die Zukunft zu investieren. Lindners Sabotage ist aber mehr Ausdruck seines Opportunismus denn seiner inhaltlichen Überzeugung, ist mindestens Kuzmany überzeugt. Mit Lindner seien keine verlässlichen Absprachen möglich, weil er «stets auf den eigenen Vorteil bedacht ist.» Mit verheerenden Folgen: «Auf mutmasslich viele Jahre ist dank seines Wirkens ein progressives Regierungsprojekt kaum noch vorstellbar.»
Die andere Narzisstin der deutschen Politik (der Narzissmus zeigt sich allein schon darin, dass man eine Partei nach sich benennt), Sahra Wagenknecht, hat zwar vor den Wahlen ihr politisches Schicksal an den Einzug in den Bundestag geknüpft, will das jetzt aber doch nicht so eng sehen. Zuerst sollen in Trumpscher Manier mal die Umfrageinstitute verklagt werden, denen sie eine Mitschuld am Nichteinzug gibt. Dass man nach einem knappen Resultat auch den Rechtsweg prüft, ist durchaus legitim, sowohl für die FDP wie für das BSW. Zu hoffen ist aber, dass das Resultat so bleibt. Im Gegensatz zum BSW hat die FDP immerhin noch theoretisch eine Chance, sich dank einer Erneuerung wieder zu einer – eigentlich gebrauchten – liberalen Stimme zu entwickeln.
Die Linke hingegen kann sich als einzige wirklich freuen. Ihren Erfolg hat sich nicht dem «Seniorenexpress» von Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow zu verdanken, sondern vor allem ihrer Spitzenkandidatin Heidi Reichinneck. Die ehemalige Jugendarbeiterin schaffte es im Wahlkampf, Junge zu begeistern: Die Linke ist damit (wohl vor allem auf Kosten der Grünen) die klare Nummer 1 bei Erstwähler:innen, insbesondere bei jungen Frauen. Auch junge Männer wählen die Linke, allerdings nicht so stark wie die AfD.
Die AfD konnte nicht nur bei jungen Männern besonders zulegen, sondern vor allem auch bei Nichtwähler:innen. Die sehr hohe Wahlbeteiligung von über 80 Prozent hat also vor allem der AfD genützt. Sie gewinnt in ihren Hochburgen im Osten stark dazu, kann aber auch in vielen Orten in den alten Bundesländern zulegen, insbesondere in eher industriell geprägten Regionen. Die AfD hat die Migrationspolitik im Zentrum, punktet aber vor allem dort, wo der Ausländeranteil klein ist. Weniger gewählt wird die AfD in Gebieten mit einem höheren Frauenanteil, einer jüngeren Bevölkerung, einem höheren formalen Bildungsniveau und grösserer Urbanität. Aber: Innerhalb der Altersverteilung sind es die Alten, die der AfD am wenigsten Wähleranteil schenken. Während die AfD bei Personen zwischen 18 und 24 auf einen Wähleranteil von 21 Prozent kommt, sind es bei den über 70-Jährigen nur zehn Prozent.
Der neue Kanzler Friedrich Merz hat nun angekündigt, sich Zeit zu nehmen für eine neue Regierungsbildung. Eine Koalition mit der AfD hat Merz ausgeschlossen. Wir wissen aus Österreich, dass solche Wahlkampfaussagen nichts heissen müssen. Aber: Auch Österreich wird voraussichtlich bald aus einer Koalition von Christ- und Sozialdemokraten, zusammen mit der liberalen Neos, regiert. Das ist zwar langweilig und unbefriedigend. Aber: Es könnte schlimmer sein.