«Es fallen noch viel zu viele zwischen Stuhl und Bank»

Selbstbestimmung statt Heimversorgung für Menschen mit Behinderung – das fordern Islam Alijaj und David Siems mit ihrem Verein und der gleichnamigen Website www.selbstbestimmung.ch. Wie sie ihr Ziel erreichen wollen, erklären die beiden im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Was hat Sie auf die Idee gebracht, Ihren Verein zu gründen?

 

David Siems: Wir waren schon vor der Vereinsgründung in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung aktiv. Diese wurde in den USA der 1960er-Jahre von Studierenden mit Behinderung mit dem Hauptziel gegründet, ausserhalb von Heimen leben zu können und sich die Personen selbst auszusuchen, welche sie im Alltag unterstützen. 2012 entdeckten wir, dass die Domain «selbstbestimmung.ch» zum Verkauf stand. Wir erwarben sie einfach mal und machten uns erst danach Gedanken, was wir damit anstellen sollten. So entstand nach und nach die Idee einer umfassenden Presseschau mit wöchentlichem Newsletter zum Thema Behinderung.

 

Islam Alijaj: Vor anderthalb Jahren haben wir dann beschlossen, den Verein zu einer schlagkräftigen Behindertenorganisation auszubauen.

 

Was heisst das konkret?

 

Islam Alijaj: Wir verlassen uns nicht mehr nur auf unsere Website. In meiner Funktion als Präsident kontaktiere ich gezielt potenzielle PartnerInnen. So hat sich mit der Zeit eine Türe nach der andern geöffnet, und neue Kontakte haben sich ergeben. Auch mit «Inclusion Handicap», dem schweizerischen Dachverband der Dachverbände im Behindertenbereich, sind wir zusammengesessen. Mittlerweile bin ich in der Arbeitsgruppe dabei, die sich um die nationale Behindertenpolitik kümmert und unter anderem die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes und der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen begleitet. Zu vielen weiteren Kontakten bin ich gekommen, nachdem ich der SP Zürich 9 beigetreten bin.

 

Welches sind die Forderungen Ihres Vereins?

 

David Siems: Ganz allgemein gesagt: Wir setzen uns für eine zeitgemässe, klischeefreie Sicht auf das Thema Behinderung und damit einhergehend für die Gleichstellung in allen Lebenslagen ein. Menschen mit Behinderung sind eigentlich vollkommen gewöhnlich und haben all die Hoffnungen und Sorgen, die alle anderen auch haben. Zusätzlich haben wir halt noch irgendeine Art von körperlicher, intellektueller oder psychischer Abweichung. Diese definiert uns aber nicht, macht uns weder zu inspirierenden Helden noch zu Mitleidsobjekten.

 

Islam Alijaj: Menschen mit Behinderung werden häufig als ‹hilflos› angesehen, als Menschen, die betreut werden müssen und für die es folglich am besten ist, wenn sie in einem Heim leben und in einer geschützten Werkstätte arbeiten, wo für alles gesorgt ist. Aus dieser Haltung hat sich im Laufe der Zeit eine ganze Branche entwickelt, von der auch viele Arbeitsplätze abhängen. Es gibt heute Heime, die sich in Richtung selbstbestimmtes Leben verändern wollen. Aber vielen anderen bereitet diese Idee Existenzängste.

 

Wie kommen Sie darauf?

 

Islam Alijaj: Ein klassisches Heim hat sehr starre Strukturen, die zwar einen reibungslosen Betrieb ermöglichen, aber wenig Raum für individuelle Freiheiten bieten. Heute müssen die Heime in erster Linie das zuständige Amt beim Kanton zufriedenstellen, um zu überleben. Wenn Menschen mit Behinderung echte Wahlfreiheit hätten, würde jeder einzelne Klient zu einem mündigen Kunden werden. Dann bräuchte es mehr Privatsphäre und weniger Regeln und Kontrolle. Es käme zu mehr Wechseln und die Zahl der Heimplätze insgesamt würde etwas abnehmen, da sich einige Leute für ein Leben in der eigenen Wohnung entscheiden würden. Ob man diesen freien Wettbewerb als Gefahr oder Chance für den eigenen Betrieb sieht, hängt von der persönlichen Einstellung ab.

 

Aber die Heime und Werkstätten sind doch dazu da, auf die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung einzugehen.

 

Islam Alijaj: Aber wer zahlt, befiehlt. Tatsache ist, dass die Finanzierung von Leistungen für Menschen mit Behinderung heute weitgehend direkt zwischen Staat und Anbieter abgewickelt wird. Das betrifft nicht nur Pflege und Betreuung, sondern auch Beratungsangebote und Hilfsmittel, wie zum Beispiel Rollstühle. Wir sind in diesem System gewissermassen wie die Milchkühe in der Landwirtschaft: Je mehr von uns ein Heim unterbringt, desto mehr Geld erhält es.

 

Was müsste sich ändern?

 

Islam Alijaj: Wir möchten selbstständig jene Leistungen einkaufen können, die wir tatsächlich brauchen, und das unabhängig davon, ob wir in einem Heim oder in einer eigenen Wohnung leben.

 

David Siems: Der Kanton Bern ist diesbezüglich übrigens viel fortschrittlicher als der Kanton Zürich. Dort fliesst das Geld an die Betroffenen, wodurch sie persönliche Assistenten einstellen können, die sie unterstützen. Das ist in vielerlei Hinsicht klüger als das Zürcher System.

 

Inwiefern?

 

David Siems: Im Heim kann ich mir ja nicht aussuchen, wer mich pflegt. Ich muss mich an intimen Körperstellen von jemandem berühren lassen, der mir vielleicht unsympathisch ist. Das ist zwar kein sexueller Missbrauch im engeren Sinne, aber es verletzt trotzdem das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper. Unsinnig ist die heutige Regelung auch aus finanzieller Sicht: Die Heime werden ja vom Kanton finanziert. Menschen, die nicht im Heim leben wollen, bekommen jedoch unter gewissen Umständen ein Assistenzbudget von der IV und somit vom Bund ausbezahlt. Der Kanton spart also an jedem Menschen, der mit Assistenz lebt, hohe Heimkosten. Dieses Assistenzbudget ist aber auf maximal acht Stunden pro Tag gedeckelt. Reicht das nicht, müssen die Leute im für den Kanton teuren Heim bleiben. Da wäre es doch viel sinnvoller, wenn der Kanton in so einem Fall die fehlenden Assistenzstunden bezahlen würde, anstatt die vollen Heimkosten zu tragen.

 

Sie wollen also den Heimen an den Kragen: Wie soll das gehen?

 

Islam Alijaj: Nein, das wollen wir eben nicht. Die Leute sollen nur die freie Wahl haben. Ob es dann jemandem an den Kragen geht, hängt von der Kundenfreundlichkeit der Heime ab.

 

Was wäre mit jenen Menschen, die lieber in einer Institution betreut werden möchten?

 

Islam Alijaj: Sie könnten selbstverständlich weiterhin im Heim leben. Aber die Institutionen sollten sich als Dienstleister der Menschen mit Behinderung verstehen und sie als Kundinnen und Kunden ernstnehmen.

 

David Siems: Mit den geschützten Betrieben ist es ja ganz ähnlich. Da wendet man eine Menge Geld dafür auf, ein ‹künstliches› Unternehmen zu kreieren, nur damit die Menschen mit Behinderung ein paar Franken verdienen können. Einige Institutionen gehen hier einen anderen Weg. Sie arbeiten mit privatwirtschaftlichen Unternehmen zusammen und platzieren die KlientInnen dort in Nischenarbeitsplätzen. So können die Betroffenen am ersten Arbeitsmarkt teilhaben und haben trotzdem den geschützten Rahmen, den sie brauchen. Man darf auch nicht vergessen, dass die Aufträge, die in geschützten Betrieben erledigt werden, oft echte Kundenaufträge sind. Man konkurrenziert somit – auch wenn das von Institutionenvertretern häufig bestritten wird – die freie Wirtschaft und trägt damit sogar dazu bei, dass noch vorhandene Nischenarbeitsplätze abgebaut werden.

 

Mit der Altersvorsorge befassen Sie sich ja ebenfalls…

 

Islam Alijaj: Die Altersvorsorge wird auf Bundesebene bald wieder zum grossen Thema, und wir weisen in diesem Zusammenhang auf einen grossen Fehler der geschützten Werkstätten hin: Wer für einen Hungerlohn von ein paar hundert Franken im Monat im zweiten Arbeitsmarkt angestellt ist, hat keine Altersvorsorge. Das heisst, er hat keine Chance, ein Vermögen anzuhäufen, und Pensionskassen existieren im zweiten Arbeitsmarkt auch nicht. Da barrierefreie Wohnungen rar und für die Ergänzungsleistungen häufig zu teuer sind, ist ein früher Heimeintritt für gehbehinderte Menschen wahrscheinlich.

 

David Siems: Wie bereits erwähnt haben Menschen mit Behinderung im Endeffekt dieselben Bedürfnisse und Schwierigkeiten wie alle anderen auch. Wir fordern keine Spezialbehandlung, es sei denn, es handelt sich um einen notwendigen behinderungsbedingten Ausgleich. Wir fordern das, was sowieso selbstverständlich sein müsste: Gleichstellung. Das zu verstehen, fällt aber vielen Menschen ohne Behinderung merkwürdigerweise sehr schwer.

 

Wie wollen Sie Ihre Ideen verwirklichen – oder anders gefragt: Wie realistisch ist die Annahme, dass das tatsächlich gelingen kann?

 

Islam Alijaj: AktivistInnen wie wir müssen sich vernetzen, und zwar nicht nur innerhalb von linken Parteien, die im Behindertenwesen leider übermässig vertreten sind. Man muss aus dieser Echokammer herauskommen und auch mit ExponentInnen des bürgerlichen Lagers sprechen. Gute Argumente gibt es ja: Die geringeren Kosten dieser Modelle haben wir schon erwähnt. Weshalb hatten die Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King oder die LGBT-Bewegung solchen Erfolg? Weil sie Zusammenschlüsse von Direktbetroffenen waren bzw. sind. In der Behindertenpolitik ist es demgegenüber bis heute so, dass Nichtbehinderte entscheiden, was für die Behinderten gut ist. Auch wir möchten aber mitreden, gerade auch politisch: Wir haben dasselbe Recht, Gemeinderat, Stadtrat oder Regierungsrat zu werden, wie alle andern auch.

 

Sowohl im Zürcher Gemeinde- als auch im Kantonsrat sitzen bzw. sassen schon Menschen mit Behinderung.

 

David Siems: Das sind dann aber meist jene, die zu den ‹guten Behinderten› gezählt werden. Behinderung ist ja sehr stark mit Wertung verbunden, und es gibt eine klare Hierarchie der Behinderungen, die sogar den Umgang von Menschen mit Behinderung untereinander prägt. So wird beispielsweise der Körperbehinderte als höherwertig angesehen als der geistig Behinderte, und der wiederum steht über dem psychisch Kranken. Wer seine Behinderung unfallbedingt erhalten hat, steht über demjenigen, der sie schon bei der Geburt hatte. Geschlecht, Herkunft und sexuelle Orientierung spielen auch eine Rolle. Und natürlich die Erwerbssituation. Ein bisschen überspitzt gesagt: Der ‹beste Behinderte› ist der Schweizer Heteromann, der seit einem Sportumfall im Rollstuhl sitzt, aber immer noch berufstätig ist. Dieser Typus wird von der Gesellschaft dafür bewundert, dass er «sein Schicksal tapfer meistert». In der Behindertenbewegung sprechen wir in diesem Zusammenhang von «Inspiration Porn», also «Inspirations-Porno.» Am anderen Ende der Hackordnung steht die lesbische Transfrau, die aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet ist, eine posttraumatische Belastungsstörung hat und von der Sozialhilfe lebt. Dementsprechend finden z.B. Frauenthemen im Schweizer Behindertenwesen praktisch nicht statt, obwohl gut die Hälfte der Zielgruppe aus Frauen besteht. Wir haben ja letztes Jahr an der Zurich Pride teilgenommen, um auf das Thema Homosexualität und Behinderung aufmerksam zu machen. In der Behindertenbewegung haben das einige nicht verstanden und gemeint, wir würden die Zurich Pride quasi missbrauchen, um vom eigentlichen Thema auf uns abzulenken.

 

Islam Alijaj: Genau. Es gibt noch viel zu viele, die zwischen Stuhl und Bank fallen: Meine Sprachbehinderung beispielsweise wäre kein Hinderungsgrund für ein politisches Amt, finde ich. Es liesse sich z. B. sicher jemand finden, der meine Vorstösse vorlesen könnte. Und warum sollte nicht mal ein Mensch mit Sprachbehinderung eine 1.-August-Rede halten? Würde unsere Gesellschaft die Inklusion von Menschen mit Behinderung pflegen, dann hätten alle schon in der Schule Kontakt mit Menschen mit Behinderung gehabt. Sie würden ganz selbstverständlich dazugehören, und es würde niemanden stören, sich ein bisschen zu konzentrieren, wenn jemand mit einer Sprachbehinderung das Wort ergreift. Wir müssen diese Hierarchien abbauen und erreichen, dass politische Themen immer auch im Kontext der Inklusion diskutiert werden. Wir kandidieren übrigens nächstes Jahr beide für den Gemeinderat, ich in Zürich für die SP 9, David in Dübendorf für die Grünen. Denn Inklusion muss auch lokal thematisiert werden, dort, wo das Leben stattfindet.

 

www.selbstbestimmung.ch

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