Erinnern

«Vaters Aktentasche» ist ein Versuch des Erinnerns, was durch mehrere Fluchten und die Jahre erschwert ist.

 

Der Schauspielerin Nikola Weisse würde man selbst beim Stricken liebend gerne stundenlang zusehen. Ihre Spurensuche nach der eigenen Familiengeschichte, über siebzig Jahre nach der ersten Flucht vor den heranrückenden Russen aus Belgard (heute Bialogard), wird in der Inszenierung von Manuel Bürgin zu einem universellen Stück über das Dasein. Und ein humanitärer Appell. Aus drei Lautsprecherstelen sprechen drei ihrer älteren Geschwister und widersprechen ihrer eigenen Lesart teils vehement. Die wenigen Überbleibsel in der titelgebenden Aktentasche ergeben für sich allein ein zu wenig deutliches Bild. Ein auf 1991 zurückgehender späterer Augenschein am Geburtsort und den Plätzen der Kinderjahre entlarven für sakrosankt gehaltene Gewissheit als Irrtümer. Die Parteizugehörigkeit des kindlich angehimmelten Vaters wird rasch erwähnt und beiseite geschoben. Er wurde später Entnazifiziert, basta. Der Wille, sich zu erinnern, benötigt auch Courage. Die vielschichtigen Auseinandersetzungen in dieser szenischen Recherche sind für das Publikum weniger schmerzlich als vielmehr erhellend. Ein mitten in den Kriegsjahren geborener Spross einer Familie des Tätervolkes muss letztlich dreimal fliehen, immer steht das Überleben auf dem Spiel. Das damals kleine Kind ist noch mehr auf andere angewiesen als die Erwachsenen. Wer sich der aktuellen Realität nicht komplett verschliesst, beginnt sich automatisch zu hintersinnen. Was masst sich ein Teil von uns an, Fluchtgründe als ‹berechtigt› und andere als ‹taktisch› voneinander zu separieren, wenn Bomben auf alle fallen? Dank der einnehmenden Präsenz von Nikola Weisse erhält der Abend auch eine Stütze namens Witz, was es ungemein erleichtert, den Fokus vom Einzelfall zum grossen Ganzen überzulenken, woraus sich im Idealfall eine Demut entwickelt – und eine Dankbarkeit, per Zufall nicht davon betroffen zu sein. froh.

 

«Vaters Aktentasche», bis 26.10., Theater Winkelwiese, Zürich.

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