«Mit unserer Strategie können wir zunehmend auch Menschen, die schon längere Zeit bei der Sozialhilfe anhängig sind, wieder ablösen», erklärt Nicolas Galladé, Sozialvorstand der Stadt Winterthur. (Bild: zVg)

Erfolgreiches Winterthurer Modell in der Sozialhilfe

Zum dritten Mal in Folge konnte die Stadt Winterthur die sogenannte Sozialhilfequote, das heisst den Anteil der Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, senken. Aktuell entspricht sie dem Stand von 2013. Matthias Erzinger hat mit dem Winterthurer Sozialvorstand Nicolas Galladé über das Winterthurer Modell sowie allgemeine Trends in der Sozialhilfe gesprochen.

Nicolas Galladé, zum dritten Mal in Folge konnte die Stadt Winterthur die Sozialhilfequote senken. Was hat dazu geführt? Ist das eine Begleiterscheinung der Wirtschaftslage?

Nicolas Galladé: Da spielen verschiedene Faktoren hinein. Die aktuelle Wirtschaftslage ist sicherlich hilfreich. Gleichzeitig setzt die Wiedereingliederung von Sozialhilfebeziehenden in den Arbeitsmarkt eine enge Begleitung voraus. Tatsächlich ist es uns gelungen, anteilsmässig mehr Fälle abzuschliessen, das heisst Menschen aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit von der Sozialhilfe unabhängig zu machen. Das macht rund einen Drittel der abgelösten Fälle aus. Bei einem ähnlich hohen Anteil konnten wir Ansprüche an vorgelagerte soziale Sicherungssysteme, zum Beispiel die IV, geltend machen. Hier braucht es normalerweise einen langen Atem. Zwei bis vier Jahre sind durchaus normal, bis eine IV-Rente gesprochen wird.

Grundsätzlich ist es keine neue Erkenntnis, dass mit enger Begleitung und differenzierten Angeboten Menschen wieder aus der Sozialhilfe entlassen werden können…

Nein, neu ist das nicht, aber leider geht es immer wieder vergessen… Mit unserer Strategie können wir zunehmend auch Menschen, die schon längere Zeit bei der Sozialhilfe anhängig sind, wieder ablösen. Am einfachsten ist es, Leute im ersten Jahr wieder in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren. Mit jedem Jahr wird es schwieriger. In Winterthur waren es nun überdurchschnittlich viele Fälle, die wir bei über fünfjähriger Abhängigkeit ablösen konnten. Und rund die Hälfte davon konnte in den Arbeitsmarkt integriert werden. Bei den siebenjährigen Fällen sind es immer noch ein Drittel. Das bestätigt die Erkenntnisse aus der BASS-Studie, die schweizweit Beachtung fand und mit der wir die Wirkung einer engeren Betreuung dank mehr Ressourcen aufzeigen konnten.

Bei den Ergänzungsleistungen finanziert der Kanton nach einem langen politischen Prozess nun stärker mit, bei der Sozialhilfe nicht…

Ja, das war ein jahrelanger Weg, bis der Kanton die Ergänzungsleistungen in höherem Masse mitfinanzierte. Bei der Sozialhilfe ist das leider noch nicht absehbar. Aber es bleibt ein Thema. Gleichzeitig haben wir in Winterthur stärker auf die eigenen, operativen Handlungsspielräume fokussiert. Unser Modell ist inzwischen schweizweit zu einem Referenzwert geworden und viele Städte und Gemeinden haben das adaptiert. Alleine im Projekt «Caseload-Converter» der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) sind über 20 Gemeinden und rund 10 Kantone beteiligt.

Spüren denn die Agglomerationsgemeinden den Druck bei der Sozialhilfe?

Ja, durchaus. Normalerweise steigt die Sozialhilfequote mit der Einwohnerzahl an. Die Gründe sind bekannt: Grössere Anonymität, soziale Angebote, Netzwerke, etc. Eine Ausnahme bildet die Stadt Zürich: Hier sinkt aktuell die Quote, was wohl vor allem auf die mangelnde Verfügbarkeit von günstigem Wohnraum zurückzuführen sein dürfte. Es dürfte tendenziell eine Verlagerung geben in die nächstgrösseren Städte, Agglomerationsgemeinden und regionalen Zentren, wo auch die Bevölkerung wächst. Eine solidarischere Verteilung der Kosten in der Sozialhilfe auf alle Gemeinden respektive ein höherer kantonaler Finanzierungsanteil wäre also durchaus angebracht…

Auch die Asylfürsorge ist ein Teil Ihres Bereichs. Wie sieht die Entwicklung in diesem Bereich aus?

Seit rund fünf Jahren ist in der Schweiz und im Kanton Zürich die Integrationsagenda in Kraft. Der Bund finanziert fünf bis sieben Jahre und für vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge einen Integrationsbeitrag von 18 000 Franken. Auch in diesem Bereich zeigen die Integrationsmassnahmen eine positive Wirkung. Nun aber geraten sie unter Druck. Die kürzlich präsentierten Sparvorschläge auf Bundesebene sehen eine Reduktion der Beitragsdauer des Bundes auf vier Jahre vor. Das würde wieder zu einer stärkeren Belastung der Gemeinden führen. 

Auch hier, wie bei der IV ist es so, dass der Spardruck sich unmittelbar auf die Gemeinden auswirkt. Unsere Zahlen wie auch Erhebungen des Bundes zeigen aber, dass dies kurzsichtig ist: Je mehr Aufwand für die Integration betrieben wird, umso mehr Fälle können wir positiv abschliessen.

Beispiele für erfolgreiche Fallabschlüsse

Jung und talentiert
Die 22-jährige A.S. kam im Juni 2022 aus dem Osten der Ukraine in die Schweiz. Im «TransFer», dem Jobcoaching der Arbeitsintegration Winterthur für Geflüchtete, wurde sie auf ihrem beruflichen Weg unterstützt. Dank ihrer IT-Kenntnisse wurde sie von Powercoders gefördert und fand anschliessend eine Lehrstelle als Informatikerin in einem renommierten Unternehmen.

Berufseinstieg geschafft
Der 19-jährige junge Mann stammt aus schwierigen familiären Verhältnissen und konnte den Umgang mit Geld nie lernen. Er wird von seiner Sozialarbeiterin und von der spezialisierten städtischen Fachstelle Junge Erwachsene begleitet. Sie unterstützen ihn bei der Lehrstellensuche. Mit Lehrbeginn wäre eine Ablösung aus der Sozialhilfe dank der beantragten Stipendien eigentlich bereits möglich. Doch die Sozialarbeiterin sieht die noch vorhandenen Defizite und begleitet den jungen Mann weiter.

Als der Lehrbetrieb nach knapp zwei Jahren den Lehrvertrag auflöst, steht sie ihm zur Seite – denn er ist mit der Situation überfordert. Er fängt sich auf, findet nahtlos einen neuen Lehrbetrieb und schliesst seine Lehre erfolgreich ab. Jetzt braucht es auch die Sozialberatung nicht mehr.