Ende der Welt
Sagres galt den Menschen lange Zeit als das Ende der Welt. Es liegt nahe dem Cabo de São Vicente in Portugal, dem südwestlichsten Punkt des europäischen Festlandes. Und da bin ich jetzt gerade in den Ferien. Wenn man in Sagres auf diesen Klippen steht, auf denen man brüllen müsste, um gegen den Wind anzukommen, weshalb man sehr lange sehr still ist (ja, auch ich), fühlt es sich tatsächlich ein bisschen an wie am Ende der Welt. Wo die Felsen so derart senkrecht in die Wellen fallen und sich geradeaus alles ins Endlose verliert, da könnte es ja eigentlich gut möglich sein, dass fertig ist.
Ein Ort also, an dem man ein wenig philosophisch wird, grundsätzlich und ehrlich, ein Ort, an dem jede und jeder sich an die grossen Ideen wagt. Da sass ich, schaute in die Weite und dachte an – Ruedi Strahm. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit von Endzeitdenken, werdet ihr jetzt sagen, aber es war so: Ich gestand mir ein, dass ich Widersprüche nicht mag. Ich weiss, dass das nicht so peppig tönt, denn Widersprüche sind ja, so heisst es, die Würze des Lebens oder machen dieses überhaupt erst aus. Aber weil ich bald 40 werde, weil ich eben auf diesen Felsen sass, wollte ich ehrlich sein: Ich habe es gern, wenn es aufgeht. Und das tat es gerade nicht.
Es fing damit an, dass wir mit ‹Airbnb› reisen und also in privaten Wohnungen logieren. Das ist auf den ersten Blick etwas Wundervolles, weil man nicht in anonymen Hotelbetten nächtigt, sondern tatsächlich mit realen vor Ort lebenden Menschen in Kontakt kommt. Und wie ich dann so auf dem kleinen Balkon in Lissabon sass, mit dem Blick selig auf den Tejo, ging schliesslich auch mir ein Licht auf. Dass ich nämlich in einer klassischen Zweitwohnung sitze. Also so einer, die ich in den Bergregionen in der Schweiz mit Verve bekämpfe. Hinzu kam, dass diese Wohnung einer Portugiesin gehört, die in London lebt und arbeitet. Vor Ort betreut wird sie von ihrer Freundin, einer jungen Frau mit Universitätsabschluss, die bei solchen Wohnungen zum Rechten schaut. Ihre Schwester wiederum arbeitet als Ärztin in den USA.
Überhaupt habe ich auf dieser Reise sehr viel Kontakt mit Menschen, die eine Matur haben oder einen Uniabschluss, aber keine entsprechende Arbeit finden und sich als Taxifahrer oder Kellnerin durchschlagen. Ziemlich sicher haben fast alle von ihnen auch noch Geschwister, die im Ausland arbeiten.
Der Widerspruch, der mir hier zu schaffen macht, ist einerseits meine Sympathie für das Ziel, möglichst vielen eine Matur und einen Uniabschluss zu ermöglichen und andererseits die Realität in Form von arbeitslosen jungen Menschen. Da eben fiel mir Ruedi Strahm ein. In einer seiner ‹Tagi›-Kolumnen schrieb er über Tunesien, es sei Opfer des französischen Bildungssystems.
Mit zig arbeitslosen UniabgängerInnen, die sich mit Gelegenheitsjobs durchbringen und anderen, die ganz arbeitslos sind. Es ist leider nicht allein ein Problem frankophoner Länder, sondern ein ziemlich generelles. Wenn nur die vollschulische Bildung etwas gilt und die Maturitätsquote deshalb bei 60 oder 70 Prozent liegt, dann haben wir vielleicht erreicht, dass die höhere Bildung allen offen steht, aber auch, dass das Handwerk stigmatisiert und das Land deindustrialisiert wird (denn das touristische Baugewerbe reicht nicht, wie viele Geisterferiendörfer zeigen).
Und wenn sich das dann, wie in Portugal, mit einer aufgezwungenen Sparpolitik so verbindet, dass die UniabgängerInnen ebenso wie die ArbeiterInnen ins Ausland abwandern oder daheim schlicht keine Arbeit finden, dann ist das Ende der Welt nicht Sagres, noch erscheint es als Ruedi Strahm, sondern in Form der gebildeten und gleichzeitig verlorenen Generation, die hier gerade produziert wird. Das ist kein portugiesischer, kein französischer und auch kein europäischer, sondern ein globaler Widerspruch.