Empörung allein reicht nicht
2010 publizierte der ehemalige Résistance-Kämpfer, Überlebende des Nazi-Konzentrationslagers Buchenwald und UN-Diplomat Stéphane Hessel sein Büchlein «Indignez-vous!». Mit wenigen, klaren Worten wies der 93-jährige Hessel den jüngeren Generationen den Weg.
Jon Pult und Severin Toberer
Die emanzipatorischen Werte der Aufklärung und der Résistance, die universellen Menschenrechte, der Widerstand gegen Finanzkapitalismus, Unterdrückung, Umweltzerstörung und Krieg – diese Ur-Anliegen der Progressiven machte Hessel mit seinem beherzten Aufruf wieder attraktiv. Mehr noch – nach der Lektüre seines Essays war allen klar: Gleichgültigkeit, Resignation, Zynismus und der Habitus des Unpolitischen gehen gar nicht. Engagement war wieder angesagt!
Gemeinsame Grundwerte als Basis
Zugleich befreite Hessel viele junge Linke von der Last, die Verhältnisse in ihrer ganzen Komplexität analysieren zu müssen. Engagement aus dem Gefühl heraus wurde wieder legitim und wichtig, Engagement und Leichtigkeit wieder vereinbar. Der Erfolg dieses optimistischen Manifests zeigte drei Dinge auf. Erstens: Starke gemeinsame Grundwerte sind die Basis für gesellschaftliches Engagement. Zweitens: Progressive Ideen finden noch immer einen Nährboden in der Gesellschaft. Drittens: Engagement entspringt auch starken Emotionen wie der Empörung, nicht nur der trockenen und umfassenden Reflexion. Es genügt ein Gerechtigkeitsempfinden, eigene Betroffenheit oder einfach Empathie mit den Opfern von Ungerechtigkeit, damit man sich empört und darum engagiert.
Die einfache Formel «progressive Grundwerte x Empörung = Engagement = sozialer Fortschritt» entspricht voll und ganz den Bedürfnissen der politisch orientierungslosen Linken. Die Globalisierung und die mehrfachen Krisen der letzten Jahre haben die traditionelle Politik und ihre Trägerinnen und Träger hilf-und machtlos erscheinen lassen. Dass zahlreiche Politikerinnen und Politiker in ihrem Handeln von einer technokratischen und neoliberalen Doktrin geprägt sind und mit dem Verweis auf Sachzwänge kommunizieren, hat die traditionelle Politik zusätzlich diskreditiert.
Mehrere Protestbewegungen in den europäischen Krisenländern liessen sich darum von den Worten Hessels inspirieren. Am offensichtlichsten ist das bei den spanischen «Indignados», die ihre Eigenbezeichnung direkt an der Forderung des ehemaligen französischen Diplomaten angelehnt haben. Aber auch in einem von der Krise verschonten Land wie der Schweiz ist «Empört euch!» zu einem Leitmotiv für viele Progressive geworden.
Politik ist mehr als Engagement
Der Aufruf von Stéphane Hessel war und ist auch für uns, die hier schreiben, eine wichtige Inspiration. Mit Einfachheit und Klarheit strich Hessel die grosse Hoffnung heraus, dass aus der Empörung von emanzipierten Menschen ein wirksames Engagement für eine bessere Welt entstehen kann. Das ist richtig und wertvoll. Erst das Engagement macht die Menschen zu politischen Wesen.
Wir meinen aber, dass diese Formel nicht genügt. Empörung reicht nicht. Für echten Wandel braucht es mehr. Es braucht Politik. Und Politik ist mehr als Engagement. Politik ist die Fähigkeit, ein Projekt für die Gesellschaft zu formulieren, aber auch umzusetzen. Dies erfordert neben starken Grundwerten und emotionsgetriebenem Engagement eben auch eine saubere Analyse, ein schlüssiges Programm, eine konsequente Strategie und ein beständiges politisches Kollektiv, das sein gemeinsames Selbstverständnis laufend aushandelt. Im Klartext: Es braucht eine starke progressive Partei. Nur eine Partei kann die Energien des Engagements so kanalisieren, dass sie in einer Demokratie zu einem realen Resultat führen. Sie bewirtschaftet nicht einfach Empörung oder ruft ziellos zum Engagement auf. Eine Partei hat einen Plan. Und: Sie übernimmt Verantwortung. Übrigens ist genau das die Erkenntnis der Leaderinnen und Leader der Protestbewegungen in Spanien und Griechenland. So sind Podemos und Syriza entstanden. Heute arbeiten sie mit Hochdruck daran, aus empörten Protestbewegungen verantwortungsbewusste Regierungsparteien zu machen. Ob die Herausforderung gelingt, ist noch offen.
In den folgenden Abschnitten zeigen wir auf, welches Selbstverständnis unsere Partei, die SP, entwickeln sollte, damit wir mehr Gestaltungsmacht in unserem Land bekommen und so dem beschriebenen Anspruch gerecht werden.
Wir wollen realistisch sein
Die Grundwerte von Stéphane Hessel sind unser Kompass. Doch ein Kompass alleine genügt nicht. Wir brauchen auch eine Karte, um im anspruchsvollen Gelände der heutigen Gesellschaft den Weg zu finden. Diese Karte erhalten wir nur mit einer sauberen Analyse der wirklichen Welt. Als Partei dürfen wir nicht den alten Fehler machen, von einer Gesellschaft auszugehen, wie wir sie uns wünschen. Ausgangspunkt muss die Reali-tät, nicht unsere Ideologie sein. Sonst blenden wir uns selbst, kapseln uns ab und werden nie mit der Gesellschaft als Ganzes ins Gespräch kommen, sondern nur mit der Minderheit der längst Bekehrten.
Wir müssen zwingend den Anspruch haben, mit einer Mehrheit der Menschen in der Schweiz zu sprechen. Eine Mehrheit muss unsere Werte, unsere Ziele und unser politisches Angebot verstehen und respektieren. Das heisst noch nicht, dass uns eine Mehrheit wählt. Aber eine Mehrheit muss uns als glaub-und vertrauenswürdig empfinden.
Im Kontext der Wirklichkeit denken
Darum müssen wir lernen, mehr im Kontext der Wirklichkeit und weniger in unseren ideologischen Kategorien zu denken. Das heisst zum Beispiel, dass wir die politische Entwicklung von Syriza in Griechenland mit Hoffnung und Solidarität verfolgen. Aber als Schweizer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dürfen wir nicht den Fehler machen, die Strategie, die Rhetorik und das Selbstverständnis von Alexis Tsipras oder Yanis Varoufakis auf uns zu übertragen. Der politische Kontext in Griechenland ist fundamental anders als derjenige in der Schweiz. Die Griechinnen und Griechen leben in einer Gesellschaft, die in wenigen Jahren völlig verarmt ist und mit einer humanitären Krise kämpft. Wir leben im reichsten Land der Welt. Bei uns ist Wachstumskritik en vogue. Griechenland ringt um wirtschaftliche Perspektiven für ganze Generationen. Solche Fakten sind für die Menschen viel offensichtlicher als die von der Linken gerne bemühte Tatsache, dass der Neoliberalismus in Griechenland wie in der Schweiz die Ungleichheiten verschärft und es darum einen inneren Zusammenhang gibt zwischen Tsipras’ Kampf gegen die Austerität und unseren Volksinitiativen für eine gerechtere Verteilungs-und Arbeitsmarktpolitik.
Mehr im Kontext statt in Kategorien denken heisst, solide Kenntnisse über Wirtschaft, Gesellschaft und Geschichte des eigenen Landes zu haben. Nur wer historisches Denken beherrscht und in der eigenen Gesellschaft fest verwurzelt ist, kann beurteilen, ob die heutigen Zustände besser, schlechter oder gleich wie früher sind. Nur wer dank Alltagserfahrung, Wissen und Kompetenz wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen einordnet, kann das eigene moralische Empfinden dank einer sauberen Analyse den Menschen glaubwürdig vermitteln. Realismus ist kein Konzept, dem wir als Linke mit Argwohn begegnen müssen. Realismus ist die analytische Grundlage für unseren radikalen Veränderungswillen.
Wir wollen wahrhaft progressiv sein
Als Schweizer Sozialdemokratie wollen wir unsere Gesellschaft grundlegend verändern. Wir sind überzeugt: Die Schweiz kann mehr! Wir können das Land der Innovation, der Gerechtigkeit und der Solidarität sein. Wir können den Ruf der Schweiz als Rosinenpickerin, Steuerdumperin oder Finanz- und Rohstoffspekulantin abschütteln. Wir können unseren Bildungs-, Forschungs – und Werkplatz stärken und zugleich den Wohlstand gerechter verteilen. Exzellente Bildung, gute Arbeit, faire Löhne und sichere Renten für alle sind möglich. Ebenso die beste öffentliche Gesundheitsversorgung.
Wir können auch eine Schweiz als Nation der Künste und der Kulturen erfinden. Unkonventionelle Ideen und Lebensentwürfe können als Bereicherung statt als Last empfunden werden. Und wir können unsere Demokratie endlich auf die vielen Mitbürgerinnen und Mitbürger ausweiten, die zu Unrecht noch keinen Schweizer Pass haben. Wir können auch eine Schweiz der echten Gleichstellung der Geschlechter schaffen. Die Männer können mehr Zeit für die Familie haben, die Frauen mehr Zeit für Verantwortung und Befriedigung in der Arbeitswelt.
Gutes Wohnen, frohes Zusammenleben und solidarisches zueinander Schauen kann ein Recht und eine Verantwortung aller statt ein Privileg von wenigen werden. Möglich sind auch ein besserer Schutz unserer Natur und ein intelligenterer Umgang mit unseren Ressourcen. Denn wir können Wohlstand, Lebensqualität und ökologische Zukunftsfähigkeit verbinden. Und: Wir können technologische Innovationen, architektonische Neuheiten und wissenschaftliche Errungenschaften so anwenden, dass technischer Fortschritt auch zu gesellschaftlichem Fortschritt führt. Kurz: Wir wollen eine unter allen Gesichtspunkten progressive Schweiz!
Eine progressive Schweiz kann es allerdings nur geben, wenn das Land sich öffnet und ein internationalistisches Selbstverständnis entwickelt. Darum kann und soll eine progressive Schweiz der Europäischen Union beitreten. Alle grossen Zukunftsfragen sind global und erfordern eine handlungsfähige europäische Politik: Geopolitische Konflikte, Klimawandel, Migration, gerechte Verteilung des Reichtums, Regulierung des Cyberspace, Religionsfrieden. Wer diese und andere Herausforderungen im einzelnen Nationalstaat anzugehen versucht, wird scheitern. Auch zur Lösung der Schwächen und Probleme der EU als politisches Gebilde werden wir nur als Teil Europas und nicht als Zaungast beitragen können.
Klar, viele unserer Ideen für eine wahrhaft progressive Politik sind heute nicht mehrheitsfähig. Trotzdem wollen wir zuversichtlich und zukunftsorientiert sein. Zu oft hat sich die Linke auf das Bewahren der Errungenschaften von gestern beschränkt – aus dem Ein druck heraus, dass neue Konzepte stets von rechts kommen. Das ist falsch. Optimismus ist für progressive Politik genauso wichtig wie feste Grundwerte, Empörung über Ungerechtigkeit und eine realistische Analyse.
Wir wollen eine Gemeinschaft sein
Für den Erfolg der Sozialdemokratie braucht es noch ein weiteres Element: Das richtige Parteiverständnis. Aus der Verklärung der Geschichte heraus neigen viele von uns dazu, die Bewegung als ideale Organisationsform für gemeinsames Handeln zu sehen. Bewegungen leben von der Leidenschaft für ein Anliegen. Sie können unglaubliche Dynamik und Energie freisetzen. Aber als politische Kollektive haben sie zwei entscheidende Schwächen: Sie sind unbeständig und sie haben Mühe, sich an neue Realitäten anzupassen.
Eine Partei ist auf den ersten Blick schwerfälliger, weil sie in die politischen Institutionen eingebunden ist und weil sie selber demokratisch verfasst ist. Das kann frustrieren. Aber das permanente Diskutieren über alle politischen Themen und Strategien, der ständige Meinungs – und Interessen- ausgleich und die immer währende gemeinsame Suche nach Orientierung schaffen eine gemeinsame politische Kultur und ein gemeinsames Weltbild. Parteien sind darum mehr als Bewegungen, sie sind Wertegemeinschaften.
In einer Partei, die sich als Gemeinschaft versteht, engagieren sich die Menschen solidarisch für Anliegen, die andere Mitglieder viel mehr bewegen als einen selber – die aber denselben Grundwerten entspringen. Einer Partei bleiben Menschen auch treu, wenn sie in einer internen Debatte unterliegen, denn in vielen anderen Konflikten steht man auf derselben Seite. Es ist dieses anhaltende und solidarische Aushandeln, das eine Partei auch an die Wirklichkeit bindet, selbst wenn sich diese verändert. Eine Partei als Gemeinschaft stiftet Heimat und Solidarität – und stärkt zugleich die Veränderungskraft der Demokratie.
Uns ist bew usst, dass dies ein Idealbild einer Partei ist. Aber die SP hat dieses Potenzial, bei allen Mängeln und Problemen. Wir können und wollen noch stärker eine progressive politische Kultur entwickeln. Wir können und wollen noch mehr Menschen ansprechen und unsere Gemeinschaft erweitern. Wir können und wollen uns aber auch gegenseitig darin bestärken, uns nicht in eine imaginäre Welt zu flüchten, sondern im Hier und Jetzt gemeinsam anzupacken. Für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft.
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