Eintracht ist besser als Zwietracht

Das Verhältnis zwischen Schweiz und EU bewegt – auch die SP. In einer Diskussionsreihe soll das Thema von verschiedenen Seiten und verschiedenen Stimmen beleuchtet werden. Den Auftakt macht mit einem ersten Teil SP-Nationalrätin Jaqueline Badran.

 

Jacqueline Badran

In jedem politischen Leben gibt es Schlüsselmomente, die einen besonders prägen. Im Jahre 1996 hatte ich so einem Moment. Ich studierte zu der Zeit an der Uni St. Gallen Wirtschaft und internationale Beziehungen. In dem Rahmen machten wir eine Studienreise nach Strassburg und Brüssel zu den Europäischen Institutionen. Auf dem Weg dort- hin machten wir Halt im belgischen Basto­gne nahe der luxemburgischen Grenze und besuchten das ‹Mardasson Memorial›, eine Gedenkstätte, die an die 76 890 amerikanischen Opfer erinnert: Soldaten, die bei der Ardennenoffensive im Zweiten Weltkrieg verwundet, getötet oder vermisst wurden. Als wird dort beklommen standen, fuhr ein Militärjeep vor mit deutschem Kennzeichen. Es stiegen hohe Militärs aus, die unterschiedliche Uniformen trugen – offensichtlich Deutsche und Franzosen – auf belgischem Boden. Wie wenn es das normalste der Welt wäre. Mir stockte der Atem. Ich wusste vieles über die Gründungsideen der europäischen Vergemeinschaftung, das grosse Friedensprojekt, nie mehr Krieg durch wirtschaftliche Verflechtung. 

Aber in diesem Moment wurde mir physisch sicht- und greifbar bewusst, dass ich zur ersten Generation gehöre, die nie Krieg in Europa erlebt hat, und sich vor allem auch schlicht nicht vorstellen kann, dass Deutsche gegen Franzosen, Engländer gegen Spanier oder Holländer gegen Schweden in den Krieg ziehen. So wie es über 2000 Jahre in Europa dauerhaft der Fall war. Ich gehörte zur ersten Generation, für die es normal scheint, dass französische und deutsche Militärs in Belgien gemeinsam aus einem Jeep steigen. In dem Moment breitete sich ein starkes und tiefes Gefühl der Dankbarkeit für das grosse europäische Friedensprojekt in mir aus. Eine Dankbarkeit, die bis heute tief in mir wohnt. 

 

Europa als Sehnsuchtsort?

Einige Monate später donnerte mein Professor Gabriel für internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik während einer Vorlesung heraus: «Meine Damen und Herren, Sie müssen sich entscheiden! Sind sie nun für oder gegen die europäische Gemeinschaft? Es gibt in dieser Frage nur ein Ja oder Nein. Dazwischen gibt es nichts. Entscheiden Sie sich!» 

Nun muss man wissen, diese Zeit Mitte der 1990er-Jahre war geprägt von den Folgen der heftigen und schicksalshaft geführten EWR-Debatte und das äusserst knappe Nein gegen den Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum. Die SP hatte sich zum Gegenspieler von Christoph Blocher und seiner SVP positioniert, sie war die Speerspitze für Öffnung und gegen Abschottung, für ein vereintes Europa und gegen die «ewig gestrige Réduit-Schweiz», für die Überwindung der engen Grenzen der Nationalstaaten. Mein «Ja» zu Professor Gabriels Frage war sonnenklar, ich wählte das Licht, nicht die Dunkelheit. Ich entschied mich für weiss, nicht schwarz. Europa wurde zum Sehnsuchtsprojekt. 

Je länger man sich mit einer Materie befasst, desto klarer wird sie einem, desto eindeutiger die eigene Meinung. Normalerweise. Bei der EU-Frage passierte bei mir das Gegenteil. Je länger ich mich damit befasste, je mehr ich beobachtete und wusste, je mehr Wasser Rhein und Rhone herunterfloss, desto unsicherer wurde ich, desto uneindeutiger und verschwommener wurde alles. Ich sah nicht mehr schwarz oder weiss, sondern ein Muster aus Grautönen mit vielen Schattierungen. 

Und über die letzten 25 Jahre stand neben dem Sehnsuchtsprojekt Europa das real existierende Europa. Ein Europa, das im Kern eine doktrinäre marktradikale Wirtschaftsordnung verfasst. Ein Europarecht, das analog dem äusserst verwandten WTO-Recht, das die «Wettbewerbsvorteile» durch Lohn- und Umweltdumping schützt, ja gar hervorbringt. (Bis heute sind unterschiedliche Produktionsprozesse kein Grund für sogenannt «mengenmässige Beschränkungen» resp. «Diskriminierung» von Produkten.) Ein Europa, das einen gigantischen Arbeitsmarkt mit tobendem Wettbewerb verfasst, in dem die Löhne nach unten statt nach oben nivellieren und in dem die frei verfügbaren Einkommen sinken. Oben jedoch eine oligopolistische Konzern-Struktur befördert und dem Steuerwettbewerb nie einen Riegel schob. Ein Europa, das mit seinem Liberalisierungs- und Privatisierungswahn die öffentlichen Dienste zerstört und jede (auch essenzielle) Güterklasse einer Kapitalverwertungslogik unterstellt, sei es Strom, Post, Bahn oder Gesundheitswesen. Ich übertreibe? Die EU-Kommission hat es sogar fertiggebracht, ein Wasserprivatisierungsgesetz auszuarbeiten, dass nur wegen Bürgerprotesten in die Schublade gelegt wurde. Millionen von gemeinnützigen Wohnungen mussten wegen Urteilen des EUGH (europäischer Gerichtshof) aufgrund von Klagen von Immobilienkonzernen verkauft werden. Das gemeinnützige Prinzip der Vermietung zur Kostenmiete widerspricht dem Prinzip der untersagten staatlichen Beihilfen. Vor wenigen Wochen forderte die allmächtige EU-Kommission Frankreich dazu auf, ihren staatlichen Stromkonzern zu zerschlagen – auch das gestützt auf ihre (Fehl-)Konzeption der staatlichen Beihilfen. Die Unterstellung aller Güter und Dienstleistungen einer Kapitalverwertungslogik gipfelt darin, dass diese Doktrin sogar in Freihandelsverträgen verrechtlich wird. Die EU-Kommission brachte es fertig, im Rahmen des Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP Konzernen Klagerechte einzuräumen. Diese können auf entgangene Gewinne klagen, die ihnen entstehen, wenn Staaten gesetzgeberisch aktiv werden. Führt zum Beispiel ein Staat ein Gentechnik-Moratorium für Landwirtschaftsprodukte ein (analog der Schweiz), könnte Monsanto (heute Bayer AG) auf Milliarden-Entschädigung klagen, weil sie ihren Gentech-Mais nicht mehr einführen dürfen. Der Gipfel des Primats der Ökonomie über die Demokratie. Ein Europa (wie wir auch), das eine Festung baut gegen Flüchtlinge, Lager in Nordafrika zumindest toleriert, Menschen untätig im Mittelmeer ertrinken lässt und mit einem der schlimmsten Diktatoren der Welt in der Türkei einen Pakt schliesst, damit er Europa die Flüchtlinge vom Hals hält. Ein Europa, das recht hilflos zulässt, dass seine Mitgliedsländer Polen gerade die Meinungsfreiheit abschafft, Ungarn das Asylwesen und Malta ein Schwarzgeldmekka aufbaut. Ein Europa, das mit seiner Austeritätspolitik seinen eigenen Süden fast ausgeblutet hat und Griechenland zum grössten Privatisierungsprojekt aller Zeiten gezwungen hat, um die eigenen Banken zu retten. 

 

Keine Schwarz-Weiss-Malerei

Ist das die EU der Sehnsucht? Ist das die EU der Menschen? Nur, dass ich hier richtig verstanden werde: Die EU ist nicht der Teufel. Im Gegenteil, die EU ist unser Freund. Und wir haben – wie es Roger de Weck kürzlich in der ‹Republik› formulierte – das beste Europa, das wir je hatten. Aber die Heiligsprechung der EU, wie es gewisse Exponenten aus verschiedenen Parteien tun, ist eine komplette Verklärung der Realität und bringt uns keinen Millimeter weiter. (Der Vollständigkeit halber erwähne ich hier, dass es auch viele Silberstreifen am Horizont gibt.) 

Das bringt mich zu meinem ersten Appell. Wir müssen umgehend aufhören, die EU und insbesondere unser Verhältnis mit ihr in Schwarz-weiss zu malen. Nicht jede und jeder, der sich für das Institutionelle Rahmenabkommen ausgesprochen hat, ist ein/e VerräterIn an der sozialen Frage. Genau so wenig wie Leute, die sich kritisch geäussert haben, gleich «LinksnationalistInnen» und «Réduit-Schweizer» (sorry Roger de Weck) sind. Diese plumpen Zuschreibungen müssen sofort aufhören. Denn alle haben für ihre Haltungen gute und legitime Gründe. Ebenso enden muss die platte Zuschreibung, dass wer die EU im Allgemeinen oder das Rahmenabkommen im Speziellen kritisiert, gleich ein «EU-Gegner» ist. Oder noch schlimmer: Gleich «mit Blocher gemeinsame Sache macht». Ebenso wenig akzeptabel ist es, BefürworterInnen eines EU-Beitritts gleich als «EU-Turbos» quasi abzuqualifizieren. Denn auch diese haben – wie ich aus zig Gesprächen weiss – durchaus sehr differenzierte Betrachtungsweisen der real existierenden EU. Oftmals bestehen die Differenzen sogar nur aus Nuancen und anderen Gewichtungen. Wie gesagt: Diese Welt ist schon lange nicht mehr schwarz oder weiss. 

 

Gestaltung der globalen Wirtschaftsordnung

Das bringt mich zu meinem zweiten Appell. Wir sollten dringend als erstes die Konfliktlinien klären. Diese sind keineswegs die Frage der Öffnung versus Abschottung; ebenso wenig wie die Frage, ob man für oder gegen die EU ist. Das mag noch zu EWR-Zeiten in den 1990er-Jahren der Fall gewesen sein. Vielmehr gibt es zwei wesentliche Konfliktlinien. Wie gestalten wir in der global intensiven Arbeitsteilung eine Wirtschaftsordnung, die ohne Ausbeutung von Menschen und Umwelt auskommt? Eine Wirtschaftsordnung, indem das Kapital den Menschen dient und nicht umgekehrt. Das ist nebst dem Klima- und Biodiversitätsproblem die grosse Schlüsselfrage des einundzwanzigsten Jahrhunderts.  Hierbei spielt nicht nur die EU-Wirtschaftsverfassung, sondern auch die WTO und UNO-Orgnisationen eine Rolle. Die zweite Konfliktlinie geht entlang der Frage der demokratischen Legitimation und der Souveränitätsfrage. Welche Fragen können wir nur gemeinsam lösen? Und wofür ist man als demokratischer Entscheidungsraum – also Nationalstaat – bereit, Souveränität abzugeben? Wieviel Spielraum muss ein supranationales Gebilde den Gliedern lassen, damit pluralistische Demokratien aus erheblichen Gründen kontextuell von gemeinsamen Regeln abweichen können? 

Mein dritter und letzter Appell ist deshalb folgender: Wir müssen unsere eigene Sichtweise auf die Schweiz klären. Erstens müssen wir anerkennen, dass wir trotz allem ein Sonderfall sind. Diesen in intellektuellen linken und linksliberalen Kreisen zu verneinen, war auch eine Debatte der frühen 1990er-Jahre rund um die 700-Jahr-Feier 1991. Die Schweiz ist nun mal das einzige Land mit einer derart ausgebauten (halb-) direkten Demokratie. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob ein Parlament alleine EU-Richtlinien EU-kompatibel in nationales Recht überführen muss oder ob jedes Mal auch die Bevölkerung «Ja» dazu sagen muss. Und hier reden wir nicht von technischen Anpassungen unbestrittener Harmonisierungen. Zweitens sollten wir mit dieser kläglichen Verzwergung der Schweiz aufhören. Es ist ätzend, dauernd zu hören, man könne doch als «kleine Schweiz» der EU nicht sagen, was sie zu tun habe und die EU sei nun mal am längeren Hebel. Und überhaupt, man müsse halt dabei sein, um mitreden zu können, und sonst müsse man halt die Regeln übernehmen, selbst wenn diese Systemfehler sind.  Und man müsse halt unterschreiben, was auf dem Tisch liege, sonst drohe das wirtschaftliche Armageddon. Das sind alles keine Leitlinien, wenn es um faktisch unkündbare institutionelle Konstrukte wie das Rahmenabkommen geht. Die Seele der EU ist die Beendigung der Machtpolitik durch Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Das heisst, jeder Staat begegnet einem anderen auf Augenhöhe. Zudem hat die Schweiz doch einiges zu bieten, was Erfahrungen an Demokratie, öffentlichen Diensten, Gemeinnützigkeit, Konsensbildung, den Umgang mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Minderheiten sowie die Konstitution eines föderalen pluralistischen Bundesstaats angeht. Durchaus exportfähig würde ich meinen, wie beispielsweise die Tatsache zeigt, dass die Hälfte aller OECD-Regeln «LexSuisse» sind. Wir müssen uns nicht gleich überschätzen und für besser befinden, unterschätzen aber ebenso wenig.  

Und so plädiere ich dafür, dass wir uns als Sozialdemokratische Partei aufmachen, uns zuerst miteinander und dann gemeinsam mit allen europafreundlichen Kräften zu einigen und eine ergebnisoffene Diskussion ohne Tabus führen. Den EU-Beitritt zu fordern mag zwar für einige befreiend wirken, realistisch ist er nicht. Aber einen EU-Beitritt zu debattieren hilft dabei herauszufinden, wo unsere Schmerzpunkte sind, was das ganz lebenspraktisch bedeuten würde, was akzeptabel, was inakzeptabel daran wäre. Am Ende stehen wir in der Pflicht, eine tragbare Lösung zu finden für die institutionelle Frage, ob das nun ein EWR-Light oder ein Rahmenabkommen 2.0 ist. Meiner Meinung ist es dazu hilfreich zu verstehen, wieso das Rahmenabkommen aus guten Gründen gescheitert ist und was für eine Bedeutung eine Hochlohnpolitik, ein ausgebauter öffentlicher Dienst und die direkte Demokratie hat, sowie was die Systemfehler der EU sind. Daran möchte ich gerne in den nächsten Artikeln im Rahmen dieser Diskussionsreihe meinen Beitrag leisten.  Ich bin der Überzeugung, dieser Prozess ist unvermeidbar, notwendig, unglaublich aufregend, ja abenteuerlich, komplex und herausfordernd und bedarf einiges an politischer Innovation. Ich freue mich darauf.

 

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