- Gedanken zur Woche
Einsamkeit
2019 reichte der damalige SP-Nationalrat und heutige GLP-Politiker Daniel Frei ein Postulat ein, das vom Bundesrat eine Strategie und Massnahmen gegen die Einsamkeit verlangte. Das Postulat wurde später, als Frei nicht mehr im Rat war, von einer Mehrheit abgelehnt. Der eine oder die andere machte sich vielleicht auch ein bisschen lustig über das Anliegen, so in der Art von «haben wir nicht grössere Probleme». Der Transparenz halber muss ich sagen, dass ich das Postulat zwar mitunterzeichnet habe, aber dem Thema auch nicht sonderlich viel Gewicht beigemessen habe. Dabei ist Einsamkeit tatsächlich ein grosses gesundheitliches Risiko. Studien haben ergeben, dass Einsamkeit für die Gesundheit so schädlich sein kann wie der Konsum von 15 Zigaretten pro Tag.
Einsamkeit nimmt zu. Gerade auch bei jungen Menschen. Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums haben festgestellt dass sich schon vor Corona rund ein Drittel der Bevölkerung gelegentlich bis häufig einsam gefühlt hat, wie die NZZ berichtete. Rund fünf Prozent der Befragten fühlten sich ziemlich und sehr häufig einsam. Während der Pandemie waren es 13 Prozent.
Gleichzeitig findet auch ein Trend statt, dass gerade Junge immer weniger ausgehen und auch weniger Alkohol konsumieren. Die Bloomberg-Kolumnistin Allison Schrager nennt dieses Phänomen die Introvertierten-Ökonomie. Nach Corona habe es zwar wieder einen leichten Anstieg bei Restaurant- und Clubbesuchen gegeben, weil ein Nachholbedarf dagewesen wäre. Doch mittlerweile ist der Trend wieder rückläufig. Schrager führt dies auch darauf zurück, dass sich Singles heute auch über Dating-Apps kennenlernen können, was weit effektiver ist, als zu hoffen, dass man in einer Bar oder in einem Club jemanden kennenlernt. Schrager schliesst ihre Kolumne damit, dass der Rückgang an Alkoholkonsum wohl dazu führe, dass die Leute physisch gesünder sind. Der Mangel an Gesellschaft und menschlichen Austausch hingegen könnte zu anderen Defiziten führen.
Der Politikwissenschaftler Robert Putnam schrieb 2000 mit «Bowling Alone» einen Bestseller. In dieser Studie vertrat er die These, dass die Anzahl der Menschen, die sich in Vereinen engagieren würden, immer stärker sinkt. Immer weniger Menschen sind Teil von Lesezirkeln, Sportvereinen oder Elternräten. Dies führe aber zu einem Verlust an sozialem Kapital. Damit meint er den Grad des sozialen Zusammenhaltes, der innerhalb von Gemeinschaften zu finden ist. Wichtig dabei sind ihm Vertrauen, Gegenseitigkeit und Gemeinschaftsleben. Schwindet das soziale Kapital, werden entstandene Kosten externalisiert. Oder einfacher gesagt, die freiwillige Nachbarschaftshilfe muss durch professionelle Sozialarbeit ersetzt werden. Wenn also soziales Kapital schwindet, dann schwächt das sowohl das soziale Umfeld wie auch die Wirtschaft, deren Transaktionen auf Vertrauen angewiesen sind, es beschädige politische Institutionen und fördere die Polarisierung. Und letztlich macht es die Menschen auch weniger glücklich. Die Gründe für diese Entwicklung sah er zunächst vor allem in der technologischen Entwicklung wie dem Fernsehen und später dem Internet. In seinem neueren Buch «The Upswing» legt er einen grösseren Fokus auf die gesellschaftliche Individualisierung, die seit den 1960er-Jahren stattgefunden hat. Es habe schon zum Ende des
19. Jahrhunderts eine ähnliche Zeit der Polarisierung und der Ungleichheit gegeben wie heute. Diese wurde im zwanzigsten Jahrhundert überwunden, nur um sich gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder dem 19. Jahrhundert anzunähern. Er illustriert es mit einer Ich-Wir-Ich-Kurve. Wir sind als Gesellschaft also zu sehr mit dem Ich und zu wenig mit dem Wir beschäftigt.
Die Analyse hat natürlich auch etwas Konservatives. Denn gerade diese Individualisierung ist auch das Resultat verschiedener Emanzipationsbewegungen. Für Frauen, Schwule und Lesben, für viele marginalisierte Gruppen waren die glorifizierte Zeit des Wirs, die 1950er-Jahre, keine besonders glückliche Zeit. Ihre Bedürfnisse wurden in diesem Wir nicht wahrgenommen. «Wer einsam ist, der hat es gut. Wie keiner da ist, der ihm was tut», dichtet Willhelm Busch satirisch. «Und niemand gibt ihm weise Lehren, die gut gemeint und bös zu hören.» Enge Gemeinschaften können sowohl glücklich machen als auch erdrückend sein. Eine Rückkehr zu mehr Gemeinschaft muss also sicher fortschrittlicher gedacht werden.
Wenig Auswirkung hat gemäss Putnam die wachsende Ungleichheit. Dies sehen etliche anders, wie beispielsweise Thomas Piketty, der in seinem Buch «Capital and Ideology» argumentiert, dass gesellschaftliche Fortschritte immer aus dem Kampf für mehr Gleichheit entstanden sind und dass die seit den 1980er-Jahren gewachsene ökonomische Ungleichheit eine destabilisierende Wirkung hat. Gleichheit macht glücklich, stellten die Forscher:innen Kate Pickett und Richard Wilkinson in ihrem Buch «The Spirit Level» (Gleichheit ist Glück) fest. Dieses Buch inspirierte unseren Kolumnisten Markus Kunz und andere zur Gründung der Swiss Equality Group, wie er vor zwei Wochen in seiner Kolumne ausführte. Die negativen Auswirkungen von Ungleichheit sind gut erforscht: Je grösser die Ungleichheit, desto grösser die Probleme im Gesundheits-, Sozial- und Sicherheitsbereich.
Es ist aber wie immer gut möglich, dass beides stimmt. Die wachsende Ungleichheit macht uns glücklich, eine einsame Individualisierung auch. Gerade wenn diese verstärkt wird durch Technologien wie ‹soziale› Medien, die uns Freundschaften und soziale Kontakte vorgaukeln, die weit weniger befriedigend sind als reale. Der Einsame im Gedicht von Wilhelm Busch hat zwar alle Freiheiten, stirbt denn aber auch allein und vergessen.
Tatsächlich glaube ich, dass hier auch ein Erklärungsfaktor im Aufstieg des Rechtsnationalismus liegt. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Solidarität, der Wunsch, Teil von etwas zu sein, dass grösser ist als das Ich, ist auch in einer individualisierten und kapitalistischen Gesellschaft da. Die Klassensolidarität ist – auch aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklungen – in den Hintergrund geraten. Sie weicht einer Solidarität der Herkunft: Sozialwerke, soziale Leistungen, soziale Gemeinschaften – aber nur für Einheimische. Die Arbeiterschaft, SP und Gewerkschaften hatten einst neben der Politik auch ein reges Gesellschaftsleben angeboten. Vom Turnverein bis zum Wanderclub, von der Jugendorganisation bis zum Kulturleben und den Ferienkolonien – für das ganze Freizeitleben war gesorgt. Viele dieser Vereine sind mangels Nachwuchs eingegangen oder sind mit ihren bürgerlichen Pendants zusammengegangen. Eine Strategie gegen die Einsamkeit könnte denn auch nicht nur ein Rezept sein für mehr Glück und Gesundheit. Vielleicht wäre es aber auch eine politische Strategie als Alternative zu einer rein tribal verstandenen Solidarität.