Die Verzettelung von Regulierungen über regulative Nischen und Schlupflöcher führt unter dem Strich zu einer sozialen Abwärtsspirale. (Bild: VOLLTOLL / Manuel Lopez)

Einheit in Vielfalt – Vielfalt in Einheit

«Einheit in Vielfalt»: So lautet das Motto der Europäischen Union. Es zielt darauf ab, gemeinsame Werte wie Freiheit, Frieden und Solidarität in einer aus unterschiedlichen Kulturen zusammengesetzten Union zu verteidigen. Dieses Motto ist auch in der Schweizer Bundesverfassung verankert: In der Präambel äussert die Schweiz den «Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben».

Nirgendwo anders wird die gegenseitige Achtung der kulturellen, sprachlichen und geschlechtlichen Vielfalt Europas so sichtbar wie am Eurovision Song Contest. Der Musikwettbewerb wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das wichtigste Instrument der Europäischen Rundfunkunion, um den Zusammenhalt in Europa zu stärken. 

2021 tritt die tadschikische Künstlerin Manizha, die für feministische und queere Anliegen kämpft, mit «Russian Woman» für Russland an und erfährt grossen Widerstand aus der russischen Regierung. Diese Stimme der Vielfalt hat der russische Imperialismus mittlerweile erstickt, weil sie die Werte eines postkolonialen Projekts, und damit des Systemfeinds, besingt. 2024 stellt ausgerechnet die Schweiz, welche der europäischen Identitätsdebatte bis heute penibelst aus dem Weg geht, die übergeordnete Frage, die das Klein-Klein der Punkteverteilung übertönt: Wer gehört zu Europa? Nemo gewinnt damit nicht nur den Wettbewerb. Nemo beantwortet für sich die Grundsatzfrage, welche die Schweiz seit dem EWR-Nein 1992 nicht beantworten will: Gehören wir zum vielfältigen Europa oder sind wir die uniformen Tell-Soldaten eines abgeschotteten Reduits? Die Europa-Initiative stellt diese Frage nicht nur Nemo, sondern der ganzen Bevölkerung. 

Das ist nötig, weil die Schweiz in dieser Frage gespalten ist: Der Widerstand gegen eine europäische Integration der Schweiz war immer mit den rechtspopulistischen Abschottungsplänen der SVP und mit dem neoliberalen Plan der Alpen-Bahamas weiter Teile des bürgerlichen Lagers verbunden. In beiden Fällen geht es darum, regulative Nischen weiter bewirtschaften zu können, die eine Halunken-Oase braucht, um dubiose, zwielichtig erworbene Gelder verwalten zu können. Die Halunken-Oase mit ihren regulativen Nischen schliesst jedoch das Modell einer sozialen Marktwirtschaft, welche dem EU Grundsatz «level playing field» (gleiche Spiesse für alle) folgt, aus. 

Die Schweiz steht vor einem Richtungsentscheid. Wollen wir eine selbstgefällige und selbstsüchtige Halunken-Oase oder ein Innovationsland mit sozialer Verantwortung sein? Die Europäische Union ist die postkoloniale Antwort für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Und die Schweiz steht in der historischen Verantwortung, dieses Projekt zu unterstützen. Denn nur grosse demokratische Föderationen können ambitionierte Standards in Bereichen wie Klimaschutz, Arbeitsrecht, Digitalisierung und Konzernverantwortung durchsetzen. Dies geht aber nur über gemeinsame Regeln, welche für alle gleich gelten. Die Verzettelung von Regulierungen über regulative Nischen und Schlupflöcher führt unter dem Strich zu einer sozialen Abwärtsspirale.

Sozialen Fortschritt erreichen wir nicht, indem wir uns Dubai und Grand Cayman als Vorbild nehmen, sondern indem wir die grossen sozialen Herausforderungen gemeinsam angehehen. Interne flankierende Massnahmen als bewährtes Mittel gegen Marktverzerrungen spielen eine wichtige Rolle. Deshalb möchte die Europa-Initiative die Umsetzung des Grundsatzes «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» in der Verfassung verankern. Doch der soziale Fortschritt verlangt mehr als Lohnschutz und Spesenregelungen: Es bedeutet gesamteuropäischen Umweltschutz, gesamteuropäischen Menschenrechtsschutz und nicht zuletzt die gesamteuropäische Verteidigung der Freiheiten des Individuums, welche erst eine Vielfalt in Einheit überhaupt möglich machen. Nemo hat diesen Freiheiten eine laute Stimme gegeben. Um diesen Grundsatzentscheid jedoch fällen zu können, braucht es 100 000 weitere laute Stimmen. 

ZUR AUTORIN

Sanija Ameti ist seit 2021 Co-Präsidentin der politischen Bewegung Operation Libero, die gemeinsam mit der Europa-Allianz am 2. April die Volksinitiative «für eine starke Schweiz in Europa (Europa-Initiative)» lancierte. Die 31-jährige Juristin amtet für die GLP im Zürcher Gemeinderat und doktoriert an der Uni Bern zum Thema Cybersecurity.