«Einem neuen Virus gegenüber ist das Immunsystem erst mal naiv»

Der Molekularbiologe Emanuel Wyler forscht am Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin in Berlin zum Thema Viren. Was das Coronavirus so speziell macht und warum wir besser lernen, damit zu leben, erklärt er im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Das Coronavirus hält zur Zeit auch die Wissenschaft auf Trab – wer macht was?

Emanuel Wyler: Beim Umgang mit dem Coronavirus sind mehrere Disziplinen mit je eigenen Schwerpunkten und Herangehensweisen involviert: Die Sozialwissenschaften und die Politik müssen Antworten darauf liefern, wie man der möglichen Verunsicherung bis hin zur Hysterie einzelner Menschen und Gruppen begegnet, und sie müssen Verhaltensregeln definieren und entscheiden, ob bzw. welche Veranstaltungen abzusagen sind. Die Epidemiologie beantwortet Fragen danach, wie schnell sich das Virus ausbereitet, wann Menschen ansteckend sind oder wie viele Menschen eine infizierte Person anstecken kann. Die medizinische Virologie kümmert sich darum, möglicherweise infizierte Personen rasch und verlässlich zu testen, und die Molekularbiologie befasst sich damit, was in der menschlichen Zelle passiert bzw. wie sie auf Eindringlinge wie das Coronavirus reagiert.

 

Letzteres ist Ihr Gebiet: Was genau wird am Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin (MDC) erforscht?

Das Zentrum ist eine grosse, vom Bund geförderte Institution à la ETH, die eng mit der Berliner Charité – um im Vergleich zu bleiben: dem Unispital – zusammenarbeitet. Die Forschung des MDC konzentriert sich denn auch nicht speziell auf Viren, sondern darauf, die molekularen Mechanismen von Gesundheit und Krankheit zu entschlüsseln und die gewonnenen Erkenntnisse möglichst rasch in die klinische Anwendung zu übertragen. Forschungsschwerpunkte sind beispielsweise Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen, Erkrankungen des Nervensystems und die Krebsforschung. Für Molekularbiologen wie mich ist das Forschen am MDC nicht zuletzt deshalb spannend, weil wir hier die neusten Technologien zur Verfügung haben und diese stetig weiterentwickeln können. Das ist auch der entscheidende Punkt, wenn es um neue Viren wie das Coronavirus und dessen Verbreitung geht.

 

Sie forschen bereits an Coronaviren?

Wir haben vor einem Jahr zusammen mit einem Team von der Charité angefangen, zu untersuchen, was in von Viren infizierten menschlichen Zellen geschieht. Zuerst arbeiteten wir mit dem Coronavirus NL63, das so heisst, weil es vor gut 15 Jahren in den Niederlanden entdeckt wurde. Jetzt steht das neue Coronavirus im Fokus.

 

Weshalb «neu»?

Die Epidemie der als SARS bekannten Lungenkrankheit, die sich 2002/2003 verbreitete, wurde ebenfalls durch ein Coronavirus verursacht. Das aktuelle Coronavirus ist nahe verwandt mit dem SARS-Virus von 2002/2003 und wird daher SARS-CoV-2 genannt.

 

Warum forschen Sie ausgerechnet in Berlin?

Berlin hat mittlerweile eine sehr grosse und vielfältige Forschungslandschaft, die solche Kollaborationen ermöglicht: in nächster Nachbarschaft ein Institut mit weltweit renommierter Coronavirus-Expertise und das MDC, das allerneuste molekularbiologische Technologie anwendet und entwickelt und über die notwendige Kompetenz für die Analyse grosser Datenmengen verfügt. Schon unsere im letzten Oktober veröffentlichte Arbeit, die sich damit befasst, wie sich Herpesviren bekämpfen lassen, hat von dieser Interdisziplinarität profitiert: Wir konnten eine spezielle Technologie benutzen, die Einzelzell-RNA-Sequenzierung. Die Ergebnisse unserer Studie wären ohne diese Methode nicht möglich gewesen. Auch für die Erforschung des Coronaviruses, die wir zurzeit zusammen mit dem Institut für Virologie der Charité und dessen Direktor Christian Drosten betreiben, brauchen wir neuste Technologien.

 

Weshalb sind Viren schwierig zu erforschen?

Viren sind überall, sie gehören schlicht zu unserem Planeten. Sie befallen längst nicht nur Säugetiere, sondern sogar Bakterien. Vor allem aber verändern sie sich extrem schnell und passen sich an. Angenommen, wir betrachten eine schöne Naturlandschaft mit Wiesen, Blumen, Schmetterlingen, Käfern und so weiter: Die Fülle an Arten, die wir sehen, beeindruckt uns. Doch unter dieser hübschen Oberfläche ist noch viel mehr los, da wimmelt es nur so von Kleinstlebewesen, Würmern, Bakterien und so weiter. Es gibt denn auch keine definierte Anzahl Viren, sondern sie sind in allem, was lebt: Die Naturlandschaft umfasst die Tiere und alles, was wir sehen – und unter der Oberfläche sind die Viren, die sich in diesen Tieren drin ständig verändern.

 

Was ist speziell am Coronavirus?

Das Coronavirus stammt wahrscheinlich von Fledermäusen und ist via andere Tiere – möglicherweise das Schuppentier – zufällig auf den Menschen übergegangen. Fledermäuse können viele Viren beherbergen, ohne dass sie davon krank werde. Die Auslöser von Ebola waren ursprünglich ebenfalls auf Fledermäusen heimisch, ohne diesen zu schaden. Auch Menschen können Viren, beispielsweise Herpesviren, in sich tragen, ohne Beschwerden zu bekommen, und gewöhnliche Erkältungsviren führen dazu, dass die meisten Menschen ein- bis viermal pro Winter erkältet sind, ohne dass es zu Komplikationen kommt. Speziell am neuen Coronavirus ist entsprechend vor allem, dass unser Immunsystem nicht dagegen gewappnet ist – eben weil das Virus neu ist.

 

Weshalb kann unser Immunsystem solche Viren nicht einfach wegputzen wie andere Viren oder auch Bakterien, die es ohne Probleme unschädlich macht?

Das Immunsystem reagiert schon: Wenn wir erkältet sind, bekommen wir Schnupfen, Husten, ein Kratzen im Hals. All dies sind Anzeichen dafür, dass das Immunsystem auf Hochtouren arbeitet und dass die Fresszellen wegputzen, was sie erwischen können. Doch das Immunsystem kann angesichts neuer Viren auch überreagieren, und dann entwickelt sich aus der viralen Erkältung zum Beispiel eine Lungenentzündung. Ein neues Virus ist immer ein Problem.

 

Weshalb?

Einem neuen Virus gegenüber ist das Immunsystem zuerst einmal naiv – es hat mit etwas zu tun, was ihm spontan nichts sagt. Das ist übrigens nicht nur medizinisch, sondern auch psychologisch schwierig – und ein wesentlicher Unterschied zur normalen, saisonalen Grippe: Sie ist im Grunde genommen zwar gefährlicher, doch sie ist bekannt, sprich, man kann sich dagegen impfen. Das ist beim Coronavirus noch nicht der Fall, und deshalb ist es insbesondere für ältere Menschen und für Menschen, die bereits an anderen Krankheiten leiden, so gefährlich.

 

Das Team von Christian Drosten hat wenige Tage nach Bekanntwerden der neuen Krankheit einen Coronavirus-Test entwickelt und diesen weltweit zur Verfügung gestellt: Wenn das möglich ist, weshalb lassen sich nicht ebenso rasch eine Impfung und Medikamente entwickeln?

Den Unterschied zwischen dem Entwickeln eines Tests und dem Entwickeln von Impfung und Medikament möchte ich anhand eines Beispiels illustrieren: Er ist etwa so gross wie der Unterschied zwischen P.S. lesen und P.S. planen, schreiben, produzieren… Medikamente gegen Viren zu entwickeln ist schwierig, weil Viren sich sehr schnell verändern und sich obendrein auch schnell an neue Umgebungen anpassen. Das heisst: Wenn ein wirksames Medikament gegen ein Virus gefunden ist, dann verändert es sich, und die Suche geht von vorne los. Schwierig ist es weiter, weil Viren menschliche Zellen nicht etwa von aussen befallen, wie Bakterien es tun: Sie verschmelzen mit den Zellen und haben keinen eigenen Stoffwechsel, der sich, wie bei Bakterien, mit Antibiotika blockieren liesse. Umgekehrt machen Viren der Medizin wegen dieser Eigenschaft aber nicht nur das Leben schwer, sondern sie können sogar sehr nützlich sein.

 

Wie denn?

Herpesviren beispielsweise sind Bestandteil einer neuen, vielversprechenden Therapie gegen Hautkrebs: Die Viren werden in die Tumore injiziert und verschmelzen dort mit den Tumorzellen. Dadurch platzen diese auf – und verlieren ihre Tarnkappe: Das Schwierige an Krebszellen ist ja die Tatsache, dass sie sich derart tarnen können, dass unser Immunsystem sie nicht als bösartige Eindringlinge wahrnimmt. Indem Hautkrebszellen dank injizierter Herpesviren platzen, passiert aber genau das – die körpereigene Abwehr erkennt die Tumorzellen als schädlich, die Fresszellen beseitigen sie, der Tumor bildet sich zurück. Solche Immuntherapien gelten als Zukunft der Krebstherapie, denn anders als bei herkömmlicher Chemotherapie werden so nur jene Zellen abgetötet, die man tatsächlich entfernt haben will.

 

An der saisonalen Grippe sterben weltweit jedes Jahr ungefähr 650 000 Menschen. Zumindest auf den ersten Blick müssten wir uns folglich viel mehr ums Bekämpfen saisonaler Grippen kümmern als ums Coronavirus…

Ich finde solche Vergleiche heikel: Es ist ja kaum ein Trost, wenn beispielsweise die eigenen Eltern oder Grosseltern ‹nur› an der saisonalen Grippe gestorben sind und nicht an einem neuartigen Virus… Abgesehen davon ändert sich die Grippe jedes Jahr, und da die Produktion der Grippeimpfungen bereits im Sommer starten muss, wirkt die Impfung gegen die saisonale Grippe mal besser, mal schlechter. Entscheidend ist deshalb, ob es überhaupt eine Impfung gibt und man sich somit mindestens teilweise schützen kann – und das trifft beim Coronavirus eben noch nicht zu. Wir müssen aber damit rechnen, dass das Coronavirus keine Eintag sfliege ist; es kommt wohl nächsten Winter wieder. Doch ich gehe davon aus, dass bis dann zumindest erste Ansätze einer Impfung entwickelt sind. Die Forschungsintensität ist sehr hoch, und viele Firmen arbeiten fieberhaft daran.

 

Globale Bedrohung, globale Forschung?

Ja, das hat etwas: Die Globalisierung fördert zwar die rasche Verbreitung eines neuen Virus in der Welt, doch auch die Forschung ist heute viel schneller vernetzt als noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ich habe beispielsweise bereits Anfang Januar mit einem Forscherkollegen in Hongkong über Twitter kommuniziert und so Informationen über mögliche Verbreitungswege erhalten.

 

Dass man Fleischmärkte wie denjenigen in Wuhan, der im Zusammenhang mit dem Virus im Fernsehen gezeigt wurde, längst aus hygienischen Gründen hätte schliessen müssen, versteht sich doch von selbst?

Entweder erfolgte auf dem Markt die erste Ansteckung einer einzelnen Person – die das Virus vielleicht von einem Tier hatte – auf eine Gruppe von Menschen, oder dort geschah der Sprung von Tier zu Mensch. Dass der Verkauf von lebenden Wildtieren auf Märkten bedenklich ist, weiss man in China jedoch seit zwanzig Jahren. Der Ruf danach, endlich dort anzusetzen, ist verständlich, doch er greift zu kurz: Aus unserer Sicht mag es logisch sein, einen solch «gruusigen» Markt sofort zu schliessen. Doch von aussen gesehen ist es auch völlig logisch, dass man Armeewaffen in Zeughäusern aufbewahren müsste, weil dadurch jedes Jahr viele Tötungen verhindert werden könnten. Dennoch lässt sich dies in der Schweiz auch im 21. Jahrhundert noch nicht durchsetzen.

 

Der Entscheid des Bundesrats, Veranstaltungen mit über 1000 TeilnehmerInnen abzusagen, ist demnach richtig?

Jedem politischen Entscheid gehen diverse Abwägungen voraus, und in diesem Fall muss das Abwägen erst noch aufgrund von unsicheren Informationen erfolgen. Denn es gibt logischerweise keine Evidenz, dass das Absagen von Grossveranstaltungen eine wirksame Massnahme ist. Sagt man jedoch nichts ab und es stecken sich an einer einzigen Grossveranstaltung Hunderte Menschen an, dann hat die Politik erst recht ein Problem. Man muss sich bewusst sein, dass es noch keine Impfung und keine Medikamente gibt und dass es deshalb in erster Linie darum gehen muss, alles zu tun, um die Verletzlichen, deren allfällige Erkrankung einen schweren Verlauf nehmen könnte, zu schützen. Dass die einen aufgrund des Coronavirus’ nicht mehr Tram fahren wollen und andere dafür plädieren, die Grenzen zu schliessen, illustriert dann wieder schön die nicht-medizinischen Komponenten dieser Epidemie.

 

Wofür plädieren Sie?

Aus wissenschaftlicher Sicht geht es zurzeit vor allem darum, rasch zu lernen – wo wird das Virus übertragen, wie viele Kinder aus einer Kita mit angesteckter Betreuerin stecken ihre Eltern an, was ist ungefährlich, was problematisch? Was jetzt jede und jeder tun kann: regelmässig die Hände gründlich mit Seife waschen, in ein Taschentuch oder den Ellenbogen husten und zuhause bleiben, wenn man sich krank fühlt.

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