- Vor den Ferien
Eine neue Ecke entdecken?
Das letzte P.S. vor der Sommerpause – also höchste Zeit, dem «188. Neujahrsblatt» der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich gerecht zu werden. Der bei Chronos verlegte Band basiert auf einem Forschungsprojekt, das von 2015 bis 2022 gedauert hat. Resultate sind im Internet unter ortsnamen.ch abrufbar. Aus dem von der Sache her trockenen Material entstand aber auch ein reizvolles Buch, das – nach Bezirken geordnet – Orte zum Wundern und Wandern im ganzen Kanton präsentiert.
Panoramen mit vielen Details
In ihrem Vorwort erinnert die aktuelle Präsidentin der Antiquarischen an «Ortsnamen des Kantons Zürich», ein von der Gesellschaft schon anno 1849 publiziertes Heft, in dem zur Erforschung der oft schleierhaften sprachlichen Herkünfte aufgerufen wurde. Das habe etwas gedauert. Doch jetzt erlaube eine Datenbank, fast alle Rätsel zu lösen. Mit einem Suchbegriff werde das Ziel direkt erreicht, ohne einen Weg zurückgelegt und einen Raum durchwandert zu haben. Mit dem Blättern im nun vorliegenden Buch werde dieser Verlust teilweise ausgeglichen. «Indem wir die Seiten umschlagen, finden wir nicht nur das, was wir eigentlich suchen.» Links und rechts davon sehen wir interessante oder amüsante Details, die uns beim digitalen Zugriff entgangen wären.
Das trifft die Qualität des Bandes gut. Trotz klarer Struktur ist er voller Überraschungen. Vor jedem Kapitel charakterisiert ein markantes Bild den dort erfassten Bezirk. Meist sind es grossflächige Fotopanoramen und relativ neue Luftaufnahmen. Flugpisten bei Kloten stechen im Fall von Bülach ins Auge. Uster brilliert mit dem Greifensee sowie einem Blick auf verschneite Alpen. Aber es kommen auch alte Karten oder Aquarelle zum Zug. «Eine wildromantische Flusslandschaft» mit prominentem Kloster Rheinau steht für Andelfingen. Eine mir ziemlich unbekannte Gegend. Amenloch in Flaach? Das in einer Vertiefung des Geländes gelegene Bauerngut einer Familie Ammann. Wildensbuch in Trüllikon? 858 als Siedlung beim Buchenwald der Willigis erstmals erwähnt. «Besitzende, Bewohnende und Bebauende» sind besonders häufig Basis der überlieferten Siedlungsnamen. Oder eben Landschaft und Lage. Während sich Trüllikon noch auf einen Hofeigentümer bezieht, hat Flaach wirklich mit einer Fläche zu tun, der Schwemmebene zwischen Rhein und Thur. Die wäre wohl einmal einen Abstecher wert.
Rafz – ein ungelöstes Rätsel
Berg am Irchel meint den Hügel, an dessen Flanke ein ländliches «Haufendorf» entstand, das heute zwischen Gemeinden vom rechten Zürichseeufer unter den Orten zu finden ist, wo laut kantonaler Finanzausgleichstatistik die «besten Steuerzahler» wohnen. Doch das ist eine andere Geschichte. In der wurde Fischenthal, wo ich wohne, 2023 als die ärmste Gemeinde wieder einmal «Schlusslicht». Wir haben übrigens einen Fisch im Wappen, doch Namensgeber ist ein Fiskin, dem die «Talgegend und Siedlung» einmal gehörten. Natürlich streifte ich im Buch durch diese Gegend besonders intensiv. «Ein während Gewittern dem Blitzschlag ausgesetzter Geländerücken oberhalb der Töss» sei Grund für den Namen der Strahlegg, während Schwarzengrund «wahrscheinlich» seiner schattigen Lage im Talboden geschuldet ist. Überfordert waren die Forschenden von der Alphütte im Überzütt. Die bleibt eine Knacknuss. Versteckt sich in der eigenartigen Bezeichnung womöglich «über ze Hütt», eine «mundartlich verschliffene Ortsangabe» für den Übergang beim letzten Aufstieg zum Hüttkopf? Auch «ein eingedeutschter romanischer Reliktname» wäre denkbar.
Immerhin wird da noch spekuliert. Als völlig ungelöstes Rätsel wird Rafz präsentiert. Kein kleines Kaff! Obwohl der Name schon im 9. und 10. Jahrhundert mit «Rafso» sowie «Rafsa» dokumentiert sei und sich seitdem lautlich fast nicht veränderte, «lässt er uns ahnungslos zurück». Alle bisherigen Deutungsansätze wurden verworfen, vergleichbare Namen lassen sich weder inner- noch ausserhalb der Schweiz finden. Gewiss scheine einzig, dass der Siedlungsname «vordeutsch» sein dürfte. Ähnlich nebulös bleibt Stäfa. Gab es da Spitzen oder Stacheln am See? Die vorgestellten Erklärungen gelten «nur so lange, bis eine überzeugendere gefunden ist». Hübsch klingt es so oder so.
Zürich bleibt das Zentrum
Wäre mir die Vielfältigkeit unseres Kantons ohne das sprachwissenschaftliche Alphabet von Aa bei Wald bis Zwinghof in Neerach – oder eben «von Angst und Not bis Zumpernaul» – je so bewusst geworden? Dabei sass ich doch mal in der Raumplanungskommission. Immer wieder kam ich beim Blättern und Stöbern ins Staunen. Schöne, originelle Bilder lassen entlegene Ecken entdecken. Alles ab Zürich mit ZVV-Tageskarte und kleinen Wanderungen erreichbar! Durch den Wegweiser auf dem Cover wird der Zusatznutzen dieses akribischen Buches zumindest angedeutet. Der finale Abschnitt führt dann zurück ins Zentrum. Eine sanft kolorierte und 1930 abgestempelte Postkarte leitet ihn ein. Links am Rand handschriftlich der Vermerk: «die Stelle mit dem Kreuz ist meine Arbeitsstelle». Die damalige Hauptpost.
Weil der letzte Bezirk allein aus der Kantonshauptstadt besteht, fällt das Kapitel relativ knapp aus. Zwar würde es locker «ein ganzes Buch füllen, alle über die Jahrhunderte entstandenen und teilweise miteinander verwobenen Ortsnamen» dieser mit mehreren Eingemeindungen geschaffenen Grossstadt zu behandeln. Doch es bleibt bei wenigen Exempeln, etwa der Annaburg, die ein Arzt im 19. Jahrhundert für seine lungenkranke Frau auf dem Grat des Uetlibergs errichten liess. Der eigenartige Holzbau wurde 1990 abgerissen. «Burgen» gab es in und um Zürich von Burghölzli bis Burgwies reichlich, obwohl archäologisch nicht immer eine Burgstelle nachgewiesen werden konnte. Später haben eher Bankgebäude das Stadtbild geprägt. Die für mich nach Turicum markanteste Namensvariante bleibt darum ZUREICH. Der im Buch nicht erwähnte Begriff leuchtete in den frühen 90er-Jahren beim Hauptbahnhof keck blauweiss vom besetzten Wolgroth-Gebäude. So wussten damals alle gleich, wohin sie kamen.
Am anderen, reicheren Ufer
Natürlich sind wir hierzulande aus globaler Sicht fast alle zu reich. Als einer, der an der Pfnüselküste aufwuchs und nun wie erwähnt in der ärmsten Gemeinde des Kantons lebt, verorte ich den Überfluss jedoch vorab am Rand des Zentrums, auf der anderen Seeseite. Wie dies auch Peter Krebs in der animierenden Anleitung zum Wandern «auf den Spuren der Trockenmauern» tut. Die sogenannte Goldküste sei extrem stark verbaut. «Boden und Liegenschaften sind hier so teuer wie sonst nirgends in der Schweiz», zumindest neben den Städten. Von der sonnenexponierten und doch milden Lage am Wasser wurden und werden nach wie vor viele Vermögende angezogen. Aber sie sage «ausser den Reichen auch den Reben zu, die eine längere Tradition haben als die Villen mit den grossen Balkonen und Garagen». Drum gäbe es gute Gründe, sich in dieser Gegend ein wenig umzusehen. An geeigneten Orten werden die Weinberge nämlich inmitten der sich ausdehnenden Siedlungen weitergepflegt. Da das Gelände zuweilen ziemlich steil ist, braucht es Mauern, um Hang und Reben zu stützen. Meistens sind dies klassische Trockenmauern, und die sind das Kernthema des jüngsten Buches des erfahrenen Wanderleiters und Journalisten.
Er stellt darin entsprechende Kulturlandschaften vom Jura über Gotthard und Gemmi bis ins Wallis und an die Maggia vor. Doch auch an unserer «Goldküste» wären noch Mauern aus Sandstein zu finden, die Eidechsen und Schlingnattern ideale Schlupflöcher bieten. Es gibt ausgesparte Nischen, die nicht für Milliardäre, sondern für den seltenen Wiedehopf bestimmt sind. Sogar neue Biotope wurden geschaffen und in Zusammenarbeit mit dem dafür 1989 gegründeten Naturnetz Pfannenstil sorgsam miteinander verbunden. Den zwölf beteiligten Gemeinden fehlt es kaum an finanziellen Mitteln, die «Geldgeber»-Liste auf der Website ist lang und illuster, viele kantonale Fachstellen wirken mit, um hier ökologische Vielfalt zu fördern. Und so zeigt dieser Hügelzug oberhalb der exklusiven Bauzonen «ein anderes, ursprünglicheres Gesicht». In gut fünf Stunden netto lässt sich ein Teil davon nach dem Aufstieg von Uerikon her mit Zielpunkt Meilen durchwandern.
Fehlt dem Pfannenstil etwas?
Wer beim Lesen über den «Pfannenstil» stolperte: Der kommt in Karten und Texten mit oder ohne Dehnungslaut vor und bei ortsnamen.ch wird die Verwirrung eher verstärkt als gemildert. Auf dem Kärtchen im Chronos-Buch sind schweizweit mehrere Pfannensti(e)le angegeben, denn der Flurname «wanderte und breitete sich über die Jahrhunderte aus», wurde in unserem Fall auf einen Hof und schliesslich den ganzen Bergrücken übertragen. Mit der ihn krönenden Hochwacht oder dort zuweilen auch «vermuteten Pechpfannen und Rauchsignalen» habe der Hügel über Meilen nichts zu tun. Die ursprünglich so benannte Wiese am Hang war einfach sehr lang. Auch was das Gold dieser Küste betrifft, sind die sprachkundigen Erklärungen nüchtern. So wird etwa ein «Goldenberg» von der sonnigen Lage sowie dem reifen Gelb der Trauben in den Weinbergen hergeleitet, ein «Goldbach» von der Farbe lehmig-gelben Wassers.
Notabene werden Pfannenstiel wie Hochwacht von Krebs ebenfalls gebührend gewürdigt, und beim Abstieg «durch das Tobel» zum Bahnhof wird es bei ihm in einer «fast feierlichen Stimmung» sogar wohltuend kühl. «Wer mehr Zeit hat, geht weiter zum Hafen und nimmt dort das Schiff.» Sein nächster Wandervorschlag rät sogar schon vor dem Start zu einer kleinen Schifffahrt. «Auf einem Mast am Bug flattern die Wimpel der Kantone St. Gallen und Glarus, zu deren Hoheitsgebiet das Gewässer zählt. Die weissen Wolken spiegeln sich im Wasser, in Ufernähe auch die Berge.» Ja, die teils wild wirkende Nordseite des Walensees ist nicht nur wegen der Trockenmauern immer einen Besuch wert.
Inga Siegfried-Schupp: Von Angst und Not bis Zumpernaul. Siedlungsnamen im Kanton Zürich. Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Band 91. Chronos-Verlag, Zürich 2024, 240 Seiten mit 131 Abbildungen, 48 Franken.
Peter Krebs: Auf den Spuren der Trockenmauern. 29 Wanderungen zu Zeugen der Schweizer Kulturlandschaft. Haupt, Bern 2023, 238 Seiten, rund 250 Abbildungen und 27 Karten, 38 Franken.