«Eine linke Partei hat immer auch einen Bildungsauftrag»

 

Eine kürzlich erschienene Studie ergab, dass ArbeiterInnen heute vor allem SVP wählen und nicht mehr, wie früher, sozialdemokratisch. Warum das so ist, erklärt der Historiker Adrian Zimmermann, Co-Verfasser der Studie, im Gespräch mit Tobias Urech.

 

Tobias Urech

 

Wie kommt es eigentlich, dass Sie ausgerechnet jetzt eine Studie zum Wahlverhalten der ArbeiterInnen verfasst haben?

Adrian Zimmermann: Die Politologin Line Rennwald, mit der ich die Studie gemeinsam verfasst habe, ist schon seit mehreren Jahren auf diesem Themengebiet tätig. Der konkrete Anlass, dass wir diese Studie jetzt verfasst haben, war eine Anfrage der wissenschaftlichen Reihe ‹Social Change in Switzerland›, wo es darum geht, Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung aus den letzten Jahren besser und einem breiten Publikum in zugänglicher Form zu präsentieren. Line Rennwald publiziert normalerweise eher auf Französisch und Englisch – vielleicht hat die auf deutsch publizierte Studie deswegen so grosses Interesse bei den Medien hervorgerufen.

 

Haben Sie schon zuvor mit Line Rennwald zusammengearbeitet?

Ja, wir haben bereits in der Festschrift zum 125. Jubiläum der SP einen Beitrag verfasst, wo wir versucht haben, den historischen und politologischen Ansatz zu vereinen.

 

Auf ihrem Blog steht, Sie forschten vor allem zur Geschichte der ArbeiterInnenbewegung und zu politischen Ideologien. Sind Sie selbst einer politischen Ideologie mehr zugetan als einer anderen?

Ich bin seit längerem Mitglied der SP und gewerkschaftlich aktiv. Ich befasse mich als Forscher häufig mit Fragen, die mich aufgrund meines politischen Engagements beschäftigen. Viele der Aufträge, von denen ich als freischaffender Forscher lebe, kommen aus dem gewerkschaftlichen Umfeld.

 

Ist bei diesem Hintergrund Objektivität noch gewährleistet?

Nur weil man sich mit einer politischen Richtung identifiziert, muss das nicht heissen, dass man deswegen nicht objektiv zu einem politisch brisanten Thema forschen kann. Und die publizierten Ergebnisse sind schliesslich nicht gerade erfreulich.

Es wäre den Linken ja nicht gedient, wenn wir behaupten würden, dass im Moment alles bestens läuft.

 

In der Studie untersuchen sie den Zeitraum ab 1971. Warum ausgerechnet ab diesem Jahr?

Weil wir erst seit diesem Zeitpunkt auf systematische Nachwahlbefragungen zugreifen können.

 

Hat man sich vorher nicht dafür interessiert?

Ich bin dieser Frage nicht im Detail nachgegangen und würde auch nicht ausschliessen, dass es vorher bereits unregelmässig Wahlbefragungen gab. Allerdings spielten Wahlbefragungen früher eine weniger prominente Rolle als heute. Die Formen der Mobilisierung waren früher einfach anders, so gab es auch keine Wahlbarometer wie heute, dafür mehr Freizeitvereine, die einer Partei nahestanden. Ausserdem gab es auch mehr Menschen, die Mitglied einer Partei waren, deren Parteizeitung gelesen haben und an Veranstaltungen teilgenommen haben und so weiter.

 

Kommen wir zur Studie. Zuerst vorweg: Wer sind eigentlich diese sogenannten ArbeiterInnen?

Wir haben eine Definition verwendet, die wohl relativ nahe an dem ist, was man im Alltag unter Arbeitern versteht – also effektiv Menschen, die in der direkten Produktion tätig sind. Konkret sind das Lohnabhängige, die einer manuellen Tätigkeit nachgehen und entweder eine handwerklich-technische Lehre gemacht haben oder angelernt bzw. ungelernt auf diesem Gebiet tätig sind. Noch bis in die Achtzigerjahre stellten die ArbeiterInnen die grösste Bevölkerungskategorie, allerdings hat diese Gruppe in den letzten Jahren aufgrund des technischen Wandels, der verstärkten Rationalisierung und der Auslagerung von Produktion ins Ausland stark abgenommen.

 

Und wie hat sich das Wahlverhalten dieser Bevölkerungsgruppe seit den 70er-Jahren verändert?

Heute stimmt eine relative Mehrheit dieser Kategorie – falls sie denn überhaupt abstimmt –für die SVP.

 

Falls sie stimmen?

Arbeiter und einfache Angestellte beteiligen sich am wenigsten stark an Wahlen und Abstimmungen. Das war in den 70er-Jahren schon so und ist bis heute so geblieben.

 

Die Arbeiter wählen heute also SVP. Hatten sie denn plötzlich andere politische Bedürfnisse?

Nein, den Wechsel kann man sich nicht auf diese Weise erklären. Die ArbeiterInnen wünschen sich auch heute noch die klassisch sozialdemokratische Wirtschaftspolitik mit einer Umverteilung der Vermögen durch staatlichen Eingriff und den Abbau der Ungleichheit von Arm und Reich. Das zieht sich seit den Siebzigerjahren kontinuierlich durch. Allerdings zieht sich über diesen gesamten Zeitraum auch der Wunsch nach einer restriktiven Migrationspolitik durch. Erklären kann man das mit der Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.

 

Die SP vertritt also die ArbeiterInnen nur in wirtschaftspolitischen Fragen in deren Sinn, nicht aber in der Migrationspolitik. Warum wählten die ArbeiterInnen früher dann trotzdem die SP?

Früher haben die Differenzen in der Migrationspolitik die ArbeiterInnen nicht davon abgehalten, SP zu wählen. Einerseits gab es in den Siebzigerjahren zwar fremdenfeindliche Splitterparteien. Diese waren aber als rechtsextrem stigmatisiert und hatten nicht derart grosse finanzielle Mittel, wie sie einer SVP heute zur Verfügung stehen, um ihren permanenten Wahlkampf mit migrations- und europapolitischen Themen zur betreiben. Dieses politische Angebot gab es nicht.

Andererseits fokussierte die SP in den 1980er-Jahren, also zu der Zeit, als die Arbeiterinnen und Arbeiter begannen, sich von ihr abzuwenden, stark auf die Themen der ‹neuen sozialen Bewegungen› und verstrickte sich später dann in der Abwehr von SVP-Themen, wo die SP ja nicht mit Übereinstimmung mit den ArbeiterInnen punkten konnte. Die SP wurde zu stark über diese Themen wahrgenommen und nicht über ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik, wo sie eigentlich nach wie vor starken Rückhalt bei den ArbeiterInnen geniesst.

 

Was sind die ‹neuen sozialen Bewegungen›?

Das sind z.B. die Umwelt- und die Frauenbewegung. Deren Anliegen polarisierten in den Achtzigerjahren stärker als Wirtschaftsthemen, da die Sozialpartnerschaft damals noch relativ stark gefestigt war. Zu dieser Zeit sprach man auch von zwei Flügeln in der SP: Dem Gewerkschaftsflügel und der von der 68er-Bewegung geprägten ‹Neuen Linken›, wobei der Gewerkschaftsflügel als der rechtere der beiden galt. Früher galten die Gewerkschaften als ‹die Vernünftigen› und die Intellektuellen waren als ‹die bösen Linken› verschrien. Heute ist das natürlich nicht mehr so, denn die Gewerkschaften positionieren sich mittlerweile ja eher links der SP.

 

Gibt es gar keine ArbeiterInnen mehr, die SP wählen?

Doch, und zwar sind das vor allem jene, die gewerkschaftlich organisiert sind. Ausserdem ist die SP in der Romandie bei den Arbeitern stärker als in der Deutschschweiz. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die SP in der Westschweiz eher noch das klassische Profil mit der Politik eines starken Sozialstaats vertritt. Auch in den Städten und in grossen Betrieben tendieren ArbeiterInnen dazu, eher sozialdemokratisch zu wählen. In den Siebzigerjahren waren die grossstädtischen Industriebetriebe ja noch eher verbreitet, als sie es heute sind.

 

Wer wählt denn heute SP?

Vor allem bei gutausgebildeten Leuten aus den Mittelschichten ist die SP breit abgestützt. Man darf diese Gruppen allerdings nicht als einen einheitlichen ‹Mittelstand› betrachten – es gibt viele unterschiedliche Teilsegmente. Die kleinen Unternehmer beispielsweise, also der klassische ‹Mittelstand›, sind nach wie vor die eigentlichen Stammwähler der SVP. Auch Kader und höhere Verwaltungsangestellte haben überwiegend bürgerliche politische Sympathien.

Auf überdurchschnittliche Sympathien kann die SP in erster Linie bei den sogenannten soziokulturellen Spezialisten, also Fachleute mit Hochschulausbildung, die in den Bereichen Bildung, Kultur, Sozialwesen, Gesundheit und Medien tätig sind, zählen. Überdurchschnittlich gewählt wird sie auch von den Fachleuten mit tertiärer Ausbildung im technischen Bereich. Gerade bei dieser Kategorie sehen wir ganz klar eine Kontinuität, weil der Übergang dieser Gruppe zur ArbeiterInnenschaft im klassischen Sinne fliessend ist – so gehören unter anderem Lokführer zu der Gruppe der technischen SpezialistInnen. Lokführer könnte man aber sehr gut auch zur Gruppe der hochqualifizierten Facharbeiter zählen.

 

KleingewerblerInnen und Arbeiter stellen also einen Teil der SVP-WählerInnen. Stimmt der Eindruck, dass die SVP einfach ein grösseres Spektrum abdeckt?

Man kann tatsächlich sagen, dass es hier ein Paradox gibt: So wählen viele Arbeiterinnen, Arbeiter und einfache Angestellte dieselbe Partei wie ein Grossteil der Unternehmer und Manager.

 

Wie gelang es der SVP, die ArbeiterInnen auf ihre Seite zu ziehen?

Sicher nicht mit konkreten politischen Massnahmen. Wenn es darum geht, konkrete Lösungsansätze – beispielsweise gegen Lohndumping und Wohnungsnot – zu präsentieren, unterstützt die SVP kaum Massnahmen, Missstände zu bekämpfen. Es geht ihr vielmehr darum, generell Stimmungsmache gegen AusländerInnen zu betreiben – wie auch jetzt wieder gut sichtbar mit der Durchsetzungsinitiative. Wenn die SVP so weitermacht, stellt sie sich definitiv ausserhalb dessen, was einmal als demokratischer Grundkonsens galt. Die SVP betreibt eine Politik, die nicht darauf abzielt, dass sich die ArbeiterInnen selbstständig politisch engagieren. Für die SVP sind die unteren Wählerschichten eine Manövriermasse, die es zu neutralisieren gilt.

 

Die SVP ist also nicht die bessere ‹Volks›partei als die SP?

Nein, sicher nicht. Sie bringt schliesslich die Menschen dazu, für etwas zu stimmen, was nicht ihren Interessen entspricht. Deswegen ist es irreführend, wenn man unsere Studien unter dem Titel «SVP – die neue Arbeiterpartei» zusammenfasst, wie das in den Medien teilweise geschah. Insofern irreführend, als dass die SVP ja gar nicht die Interessen der Arbeiter vertritt. Sie wird heute einfach überdurchschnittlich von ArbeiterInnen gewählt, damit ist sie aber noch lange nicht eine Arbeiterpartei.

 

Ganz zum Schluss der Studie stellen Sie die offene Frage: Wie lange wird es der SVP gelingen, mit ihrer permanenten migrations- und europapolitischen Kampagne gerade in denjenigen Wählerschichten zu punkten, die unter ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik am meisten zu leiden haben? Haben Sie persönlich eine Antwort darauf?

Wenn es so einfach wäre…! Ich denke, das Hauptproblem ist wohl, dass heute viele ArbeiterInnen gar nicht mehr auf die Idee kommen, die SP könnte ihre Interessen vertreten. Was sich hingegen zeigt: Gewerkschaftlich Organisierte sind viel immuner gegen die Propaganda der SVP. Politik findet eben nicht nur an Wahlen statt, sondern auch im Alltag. Es braucht wieder eine politische Kultur, bei der die Leute wissen, dass man Politik nicht nur delegieren kann, sondern, dass man sich selbst für seine Anliegen einsetzen muss. So hat ja alles angefangen mit der ArbeiterInnenbewegung. Heute stimmen viele ArbeiterInnen gegen ihre ureigenen Interessen, dabei ist die Sozialdemokratie, die einzige relevante Kraft, die diese Interessen vertritt.

Und was auch vergessen gegangen ist: Eine linke Partei hat immer auch einen Bildungsauftrag.

 

Einen Bildungsauftrag?

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Das klingt jetzt natürlich heikel und wirkt auf den ersten Blick ein wenig arrogant – so à la die Intellektuellen der Partei sagen den einfachen Leuten, was sie zu stimmen haben. Darum ging es natürlich nicht. Es war vielmehr so, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenschlossen, um sich zu bilden, man wusste damals: Wissen ist Macht. Und heute hat man keinen genügenden Ersatz für diese Bildungsgefässe gefunden. Man müsste vielleicht herausfinden, wie man diese Funktionen von früher in zeitgemässer Form wiederbeleben könnte. Es gelingt heute oft nicht mehr, die Diskussion mit den ArbeiterInnen direkt zu führen. Es gelingt nicht mehr, auf einfache Weise zu erklären, dass beispielsweise eine unmenschliche Migrationspolitik schliesslich die demokratischen Rechte auch der Einheimischen und besonders der Arbeiterinnen und Arbeiter bedroht. Genau an diesem Punkt müsste die Sozialdemokratie einhaken.

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