Eine historische Chance für die SP
Wie wird die SP wieder zum spannendsten politischen Ort der Schweiz? Das ist die entscheidende Frage, wenn die SP nun mit einem halben Jahr Corona-bedingter Verspätung ein neues Präsidium wählt.
Jacqueline Fehr
Was eigentlich im April hätte geschehen sollen, ist nun auf kommenden Samstag angesetzt: die Wahl des neuen SP-Präsidiums. Nur wenige Monate liegen zwischen dem ursprünglichen und dem tatsächlichen Termin. Doch diese Monate haben den Charakter einer Zäsur – sie trennen unser Denken und Leben in die Vor-Corona- und die Mit-Corona-Ära. Unser Alltag hat sich gründlich verändert. Was bedeutet diese Konstellation für die SP und ihr künftiges Präsidium?
Was das Grundsätzliche betrifft, nämlich die Rolle der SP und unsere Ambition als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, hat sich durch Corona nichts verändert. Meine Überzeugung, dass ich in dieser Partei dabei sein will, weil ich hier die Zukunft des Landes mitgestalten kann – diese Überzeugung ist heute genauso stark wie Ende der 1980er-Jahre, als ich Schnuppergast in einer kleinen SP-Quartiersektion war. Das tägliche Zeitungslesen war ein Genuss, damals, denn fast sicher wurde über die SP berichtet. Ob Armeeabschaffung, Europa, Altersvorsorge oder Drogenpolitik: In den wichtigen Themen hatte die SP die Debatten fest im Griff.
Dabei ging es nicht um links oder rechts. Sondern um Tempo, Energie und Leidenschaft. Peter Bodenmann, Parteipräsident ab 1990, scharte nicht gleichdenkende Leute um sich. Ob jemand zum sogenannt linken oder rechten Parteiflügel gezählt wurde: geschenkt. Was ihn interessierte, waren Weggefährten, die Menschen bewegen und Organisationen gestalten konnten. Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die mit Kraft, Kompetenz und Kreativität um gute Lösungen rangen – die Auseinandersetzungen liebten. Damit machte er die SP zum spannendsten politischen Ort der Schweiz.
Der Ort des produktiven Streits
Und heute? Heute scheint vor allem die Frage zu interessieren, wo genau das künftige SP-Präsidentenduo auf der SP-internen Flügel-Skala zu verorten ist. Dabei ist die entscheidende Frage doch eine ganz andere – nämlich: Haben die Co-Kandidierenden die Fähigkeit, die Menschen zu bewegen? Können sie Mitglieder motivieren und Wählerinnen und Wähler begeistern? Meine Antwort ist klar: Ja, genau das können sie und genau deshalb sind sie die richtigen Personen zur richtigen Zeit.
Mit ihnen kann die SP wieder zum «place to be» der politischen Debatte werden. Zum Ort, wo die Hoffnung lebt, wo Gestaltungswille besteht, wo die Zukunft erdenkt und um Haltungen gerungen wird. Zum Ort des produktiven Streitens.
Die SP hat in ihrer 130-jährigen Geschichte viele Auseinandersetzungen erlebt. «Sozis» können streiten – das haben sie immer wieder unter Beweis gestellt. Dabei haben die Kontroversen der Partei selten geschadet. Meistens war das Gegenteil der Fall.
Nochmals ein Blick zurück in die späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre: Es war die Zeit der ersten GSoA-Initiative: Ja oder Nein zur Armee – das war damals nichts weniger als die nationale Fundamentalfrage. Die Schweizer Institution schlechthin stand zur Debatte. Und der Graben ging mitten durch die Partei. Es gab das gewerkschaftlich organisierte Personal der Armeebetriebe, es gab die Offiziere mit SP-Parteibuch, und es gab die Dienstverweigerer: Die GSoA-Abstimmung hatte das Zeug, um die Partei zu zerreissen.
Stattdessen stärkte sie die Partei: Die SP machte aus der Not eine Tugend, sie legte die unterschiedlichen Positionen auf Plakaten offen. Sie stellte sich dem Streit. Das zahlte sich aus. Denn hinter der Uneinigkeit punkto Armeeabschaffung stand die viel grössere Einigkeit darüber, dass die Armee massiv verkleinert werden müsse. Dieses Ziel wurde mit vereinten Kräften und in spektakulärem Tempo erreicht.
Auf die Armee folgten das Ringen um das Verhältnis zu Europa oder um das Wirtschaftskonzept – in der SP wurde gestritten ohne Ende, vor allem aber wurde gedacht, entworfen, verworfen, neu gedacht. Die SP war die Taktgeberin der Schweizer Politik. Über Nacht wurden Positionen formuliert, manche waren gut und hatten Bestand, andere dienten vor allem der Provokation, nochmals andere waren ein Steinwurf in den Teich: Mal gucken, welche Kreise er zieht.
Dabei verstand sich die 1990er-Jahre-SP immer als Innovations- und Infrastrukturmotor. Dessen Antrieb war die Überzeugung, dass Investitionen in Innovation und Infrastruktur vor allem Investitionen in die Teilhabe sind. Weil sich mit Innovation und Infrastruktur nicht nur die Wirtschaftsleistung erhöhen, sondern auch der Kreis der Profitierenden vergrössert lässt. Der Ertrag wird vermehrt und demokratisiert.
So entstand eine Dynamik, die 1995 zum letzten grossen nationalen Wahlsieg der SP führte. Die Wählerinnen und Wählern wollten, dass wir uns weiterhin für unser grosses, gemeinsames Ziel engagierten: für mehr Gerechtigkeit.
Doppelter Ausnahmezustand
Ein Vierteljahrhundert später – 2020 – erleben wir in der westlichen Welt eine historische, weil doppelte Ausnahmesituation. Zum einen stehen wir an der Schwelle zu einer neuen politischen Ära. Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz spricht in seinem lesenswerten Buch («Das Ende der Illusionen») von einem Paradigmenwechsel. Nach einer Ära der Überregulierung (bis Ende der 1960er-Jahre) und einer anschliessenden Ära der Überdynamisierung und Egozentrik (bis 2010) erwartet er nun eine Phase, in der wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik zwar durchaus erwünscht sind. Aber nicht in einer entfesselten, individualistischen Variante, sondern begrenzt durch Rahmenbedingungen und einer stärkeren Orientierung am Gemeinwohl – Reckwitz spricht vom Paradigma des «eingebetteten Liberalismus».
Zum anderen stehen wir im Bann der Pandemie. Das heisst in der Summe: Es braucht eine neue Verortung, Haltungen müssen ausdiskutiert und die Sprache muss zurückerobert werden. Eine Ausgangslage wie gemacht für die SP. Denn – siehe oben: Niemand kann so leidenschaftlich und konstruktiv um neue Wege streiten wie die SP. Sie hat damit die historische Chance, wieder zum spannendsten Ort der Schweizer Politik zu werden.
Worüber müssen wir diskutieren? Zum Beispiel über den Begriff der Eigenverantwortung. Als Kampfbegriff von rechts wird er bevorzugt als Gegenstück zur Solidarität ins Feld geführt. Unter Pandemie-Bedingungen wurde nun aber überdeutlich, dass in einem zeitgemässen Verständnis die Eigenverantwortung umfassender verstanden werden muss: Nämlich als Bereitschaft, Verantwortung für sich selber wie auch für andere zu übernehmen.
Eigenverantwortung steht für mich nicht im Widerspruch zur Solidarität, sondern im Widerspruch zur Delegation der Verantwortung an den Staat, den Chef oder sonst eine Obrigkeit. Sie steht für mich im Widerspruch zur unemanzipierten, patronalen Gesellschaft. Zu einer Gesellschaft, in der einige wenige wissen, was für alle anderen gut ist. Seien es die Männer für die Frauen, die Wissenschaft für die Politik oder der Staat für die mündige Bürgerin. Mit Eigenverantwortung verantworte ich mein persönliches Verhalten und mein Mitwirken an den gesellschaftlichen Entwicklungen.
Gerechtigkeit und Verantwortung
Die SP sollte sich zur Patronin eines solchen Verständnisses von Eigenverantwortung machen. Ja, die SP sollte grundsätzlich auf die Karte Verantwortung setzen. Dabei kann die Verantwortung im eigenen Konsumentscheid liegen, aber auch in der demokratischen Beteiligung, die dann zu kollektiven Spielregeln führt. Wie viel wir an uns selber delegieren (indem wir zum Beispiel aufs Fliegen verzichten) und wie viel wir kollektiven Spielregeln übertragen (indem Anreize zur Erforschung CO2-freier Treibstoffe geschaffen werden) müssen wir immer wieder neu aushandeln. Verantwortungsbewusstsein lässt sich allerdings nicht verordnen. Damit es entstehen kann, braucht es Voraussetzungen. Soziologe Reckwitz sagt es so: Damit sich der eingebettete Liberalismus entfalten könne, müsse er auf die grossen Gegenwartsfragen Antworten geben. Zu diesen Fragen gehört das Verhältnis von Gerechtigkeit und Verantwortung. Nur wer sich innerhalb der Gesellschaft gerecht behandelt und respektiert fühlt, ist bereit, sich für die Gesellschaft mitverantwortlich zu fühlen.
Was das konkret heisst, zeigt Corona in seltener Klarheit. Ich möchte anhand dreier Punkte aufzeigen, wo wir als SP ansetzen könnten. Erstens verdeutlichen die zurückliegenden Monate, wie krass in unserer Arbeitswelt bei vielen Tätigkeiten das Missverhältnis zwischen Bedeutung und Prestige ist. Die Müllmänner und -frauen, das Reinigungspersonal, das Gesundheitspersonal, die Kita-Angestellten: Sie und viele weitere namenlose Frauen und Männer tragen seit Monaten unermüdlich dazu bei, dass sich die Auswirkungen von Lockdown und Pandemie in Grenzen hielten und halten. Trotzdem erhalten sie aus der Gesellschaft nur wenig Wertschätzung und schon gar nicht angemessene Löhne.
Das hat Folgen: Ungleichheit ist Gift für ein Bewusstsein der solidarischen Mitverantwortung. Darum brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die bisher marginalisierten Tätigkeiten aufwertet. Wir brauchen eine Politik, die am einen Ende der Skala soziale Verbesserungen ermöglicht und am anderen Lohnexzesse verhindert. Quasi eine 1:12-Initiative mit einem Lohnanpassungsmechanismus für die unteren Löhne.
Zweitens hat Corona uns allen den Wert eines starken Service public bewusst gemacht. Was gewesen wäre, wenn auch in unserem Gesundheitswesen die Privatisierer und Staatsabbauer gewütet hätten, haben uns die Bilder aus anderen Ländern dramatisch veranschaulicht. Unser Service public ist ein robuster Krisenschutz. Und dazu eine Investition ins gesellschaftliche Miteinander. Eine starke öffentliche Infrastruktur, ob im Gesundheits-, Bildungs- oder sonst einem Bereich, zu deren Leistungen alle Zugang haben, ist konkrete Gerechtigkeit. Der Schutz, aber vor allem auch der Ausbau des Service Public und damit der Gemeinwirtschaft muss für die SP ein Kernanliegen bleiben.
Drittens geht es um den Schutz unseres Planeten. Verantwortung übernehmen heisst, die nächsten Jahrzehnte mitdenken. Kinder, die heute auf die Welt kommen, werden das Jahr 2100 erleben. Wie viele Millionen Menschen müssen bis dahin ihre Heimat verlassen, weil der Klimawandel die Lebensgrundlagen zerstört, die internationalen Konzerne straffrei Grundrechte missachten und Kriegstreiber das grosse Geld machen?
Die Zeit drängt – nicht zuletzt, weil es beim ökologischen Umbau nicht ‹nur› um die Umwelt geht, sondern vor allem auch um die Menschen. Und um die Gerechtigkeit. Deshalb ist gerade die SP hier gefordert. Niemand sonst im politischen Spektrum versteht Nachhaltigkeit programmatisch als Verbindung von sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Aspekten. Der ökologische Umbau muss nicht den Planeten retten. Er muss das Leben auf dem Planeten für alle Menschen lebenswert machen.
Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung. Verantwortung gibt es nicht ohne Gerechtigkeit. Gerechtigkeit gibt es nicht ohne SP. Und die SP gibt es nicht ohne Debatten, Leidenschaft und Auseinandersetzungen. Machen wir die SP gemeinsam mit dem neuen Präsidium wieder zum spannendsten politischen Ort in der Schweiz. Zum Ort, wo es auch einmal heiss zu und her geht. Wo aus unterschiedlichen Positionen politische Kraft geschöpft wird. Zum Ort, der all jenen eine politische Heimat gibt, die am Fortschritt unserer Gesellschaft mitwirken und Antworten auf die grossen Fragen der Zukunft entwickeln wollen. Packen wir die historische Chance!