Eindringlich

Tatsächliche Dramen benötigen keine dramatische Übersteigerung. Die harte Realität ist brutal genug.

 

Um die Prüflinge zu motivieren, zitiert der Literaturprofessor aus Victor Hugos «L’année terrible», und das Schwarz der Leinwand überlässt das Publikum seinen Gedanken und Empfindungen. In den 100 vorangegangenen Minuten findet Audrey Diwan eine ausserordentlich virtuose Einfachheit einer Erzählweise, um Annie Ernaux’ autobiografischen Roman «L’évènement» in einen leibhaftig wirkenden Film zu überführen. Anne (Anamaria Vartolomei) ist die erste in ihrer Familie mit dem Privileg eines Hochschulstudiums. Sie ist klug, lebensdurstig, wissbegierig. Angoulème 1963. Die Sommer sind heiss. Alle jungen Erwachsenen sehnen sich nach dem Einen, die gesellschaftliche Ordnung aber steckt im hierarchischen Patriarchat fest. Als Annes Monatsblutung ausbleibt, schwant ihr Böses. Nicht nur das Schisma einer Schwangerschaft als Ledige hängt wie ein Damoklesschwert über ihr. Ihr Studium, ihre Karriere, ja ein selbstbestimmtes Leben steht auf der Kippe. Gegenüberliegend droht Gefängnis für einen Schwangerschaftsabbruch. Sie kann nicht darüber reden. Die Ärzte winken ab. Die Zeit verstreicht. Wie Au­drey Diwan die Steigerung von Annes Not mit extrem unaufgeregt wirkenden Filmmitteln zu verstärken versteht, ist furchtbar schön – und umgekehrt. Via Nebenfiguren und deren Reaktionen auf ihre intimste Offenbarung erklärt «L’évènement» die französische Rechtslage der Zeit, die an sich eine eskalierende Dramaturgie nachgerade begünstigen würde. Aber der Film bleibt ruhig. Ein Selbstversuch mit der Stricknadel misslingt. Die höheren Töchter schikanieren sie weiter. Ihre Freundinnen wenden sich von ihr ab, weil auch Mitwissen strafbar ist. Eine Engelsmacherin legt Hand an. Einmal. Zweimal. Ihr Leben steht auf dem Spiel. So oder so. Mutter oder frei. Oder tot. Die Lage um sie he­rum bleibt unverändert. Sie kämpft. Der Film bleibt ruhig, beinahe stoisch beobachtend und intim nah dran. froh.

 

«L’évènement» spielt in den Kinos Houdini, Piccadilly.

 

Spenden

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte. Jetzt spenden!

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.