Ein Teil von uns

Thomas Loosli

 

Sein Name sei Carlos. So nannte ihn das Schweizer Fernsehen in seiner Dok-Sendung und erschuf einen Mythos. In Wirklichkeit heisst er Brian und so möchte er auch genannt werden. Ich weiss, dass ich nur ein weiterer Journalist bin, der über Brian schreibt. Ich tue es trotzdem, weil mich sein Fall persönlich betroffen macht und weil ich der Ansicht bin, dass der Umgang mit dem «Fall Brian» wegweisend sein könnte, wie wir in Zukunft mit straftätigen Jugendlichen umgehen wollen.

 

Ich habe Brian im Januar 2011 kennengelernt. Damals hatte ich noch kaum Erfahrung als Lehrperson und liess mich auf ein wahres Abenteuer ein – auf das Unterrichten von schwererziehbaren Jugendlichen an einer Sonderschule. Einer der Schüler war Brian. Zum ersten Mal sah ich ihn, als er entlang der Hausmauer auf den Balkon der Schule kletterte und sich durch die Balkontür ins Klassenzimmer schwang. Er war 15 Jahre alt, sehr sportlich, aber noch kein Muskelpaket. Brian war ein charmanter, aber ein besonders widerborstiger Junge. «Das ist doch unnötig», war seine Lieblingsantwort, wenn man ihn zu etwas auffordern wollte. So scheiterte der Unterricht bei meinem Lehrerkollegen und der Schulleiter übernahm das Coaching des Jungen. An zwei Szenen mit Brian kann ich mich besonders gut erinnern. Einmal waren wir im Hallenbad Oerlikon. Sofort stürmte er auf den 10-Meter-Sprungturm und führte von dort gewagte Überschläge aus. Ich war beeindruckt von seiner Wendigkeit, die er auch auf dem Boden bewies, wo er Räder schlug und aus dem Stand den Salto machte. Es war, als würde die Schwerkraft für ihn ein bisschen weniger gelten. Im Hallenbad konnte er etwas zeigen und dabei suchte er die anerkennenden Blicke der Schulkameraden und Lehrpersonen.

 

Seine andere Seite erlebte ich auf dem Fussballplatz. Im Sportunterricht durfte Brian mit den anderen mittun, aber an jenem Tag lief es schief. Er war zwar athletisch, aber kein besonders guter Fussballer. Obwohl er durchaus ordentlich mitspielte, verlor er schnell die Geduld. Er begann einen Mitschüler zu beschimpfen. «Du gibst mir nie einen Pass!» Die Situation schaukelte sich hoch und es dauerte nicht lange bis Brian wutentbrannt auf eben diesen Schüler losging. Der Schulleiter musste Brian einfangen und ihn zu Boden drücken. Das Spiel endete für Brian – und damit auch der gemeinsame Sportunterricht mit den anderen Schülern. Das Beispiel zeigt, dass Brian schwer führbar war. Klare Anweisungen und der Aufbau einer auf Vertrauen basierenden Beziehung halfen ihm aber, sich in einem gewissen Rahmen zu bewegen. Leider verletzte Brian im Juni 2011 einen Jugendlichen schwer. Der Angreifer war nicht etwa Brian, wie es die Medien später darstellten. Brian verteidigte sich lediglich, benutzte dabei aber ein Messer. Die beiden Messerstiche hätten seinen Rivalen beinahe tödlich verletzt.

 

Sein Ausrasten beim Fussballspielen, das Einsteigen über den Balkon oder das Sich-nicht-unterrichten-lassen sind Verhaltensweisen, die aufzeigen, woran Brian immer wieder scheitert. Er kann seine Impulse schlecht unterdrücken, lässt sich ständig provozieren und legt ein dominantes Verhalten an den Tag. Das sind Probleme, die sich bei anderen schwierigen Jugendlichen (meist sind es Jungs) auch zeigen. Im Grunde suchen alle Jugendlichen vor allem zwei Dinge: Anerkennung (von Familie und Freunden) und vertrauensvolle Beziehungen. Beides bekam er im von der Jugendanwaltschaft veranlassten Sondersetting. Während eineinhalb Jahren war Brians Lage stabil. Eine klare Tagesstruktur, eine enge Begleitung und eine gute Beziehung zur Betreuungsperson waren das Erfolgsrezept. Alles schien gut zu werden, doch eine von den Medien aufgewiegelte empörte Öffentlichkeit veränderte die Situation grundlegend. Einmal eingesperrt, wurde Brian zu einem wilden Tier. Ein Rebell war er schon, jetzt wurde er zum Outlaw und bei den harten Jungs zu einem bewunderten und gefürchteten Idol.

 

In letzter Zeit hat sich die Medienberichterstattung über Brian in erfreulicher Weise verändert. Differenzierte, gut recherchierte Artikel sind in fast allen Zeitungen zu lesen. Was sich nicht geändert hat, ist die Anzahl der Publikationen. Brian trifft offenbar einen Nerv, einen schwachen Punkt unserer Gesellschaft. Der «Fall Carlos» hat Abgründe aufgerissen. Skandalös war die undifferenzierte Medienberichterstattung, schwach war die Rolle der Behörden, die Brian und den Jugendanwalt Hansueli Gürber wie heisse Kartoffeln fallen liessen. Bedenklich und verstörend war und ist die Behandlung von Brian in einigen Gefängnissen und in der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK). Zuletzt machte auch die Justiz eine schlechte Falle. Allein schon die Idee, eine Verwahrung aus präventiven Gründen für einen jungen Mann auszusprechen, der weder einen Mord noch eine Vergewaltigung begangen hat, ist meiner Meinung nach haarsträubend und eines Rechtsstaates unwürdig. Immerhin ist es nun nicht so weit gekommen. Die Haftstrafe von vier Jahren und neun Monaten ist hart, die davor angeordnete stationäre Massnahme in einer Klinik (die mindestens fünf Jahre dauern soll) könnte je nach Art der Therapie (wenn Brian überhaupt mitmacht) Sinn ergeben.

 

Die Schweiz hat ein bemerkenswert gut funktionierendes, demokratisches Gesellschaftssystem. Ein ehemaliger Lehrerkollege von mir verglich die Schweiz mit einem Uhrwerk, wenn er jungen Flüchtlingen unsere Gesellschaft erklären wollte. Brian stört offensichtlich das Uhrwerk. Der Fall Brian wirft vor allem eine Frage auf: Wie geht unsere Gesellschaft mit Menschen um, die stören, die sich nicht einfügen und ja, auch Straftaten begehen? Es geht hier nicht um die Frage, ob Brian Opfer oder Täter ist. Brian hat Straftaten begangen und für diese muss er geradestehen. Dieser junge Mann hat aber keine Straftat begangen, die eine Verwahrung rechtfertigen würde. Unsere freie Gesellschaft muss eine andere Antwort finden. In einer zunehmend von Verrohung und Vereinzelung bedrohten Gesellschaft wäre es eben gerade nötig, den sozialen Austausch und die Integration zu fördern. Die Jugendanwaltschaft in Zürich unter Hansueli Gürber hat meiner Meinung nach zwar eine etwas unorthodoxe, aber wichtige und gute Arbeit für die jugendlichen Straftäter geleistet. Brian ist nicht ein von der Gesellschaft abgekoppelter Teil, den es zu isolieren gilt. Brian ist ein Teil von uns, wir haben ihn miterschaffen.

 

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