Ein System fährt sich an die Wand

 

Tim Zulaufs «Pflege und Verpflegung» beginnt formal wie sprachlich ausnehmend sperrig, entwickelt sich jedoch zusehends mittels Rollenausbrüchen und Regieeinfällen letztlich zu etwas Poetischem.

 

Die Transparenz des Eisengestänges, das zwei identisch nachgebaute Sterbezimmer einer Frau Huber über einander liegend auf die Bühne baut, entspricht exakt der verbalen Augenwischerei der Fachpersonen, die in ihrem politisch korrekten Duktus sämtliche Ausnahmen, Fehler und systemischen Unzulänglichkeiten schönreden. Zwei Rollenspiele. Oben Christoph Rath und Vivien Bullert im Auftrag einer Versicherung. Unten Meret Hottinger und Elisabeth Rolli im Auftrag einer Forschungsanlage im sozialwissenschaftlichen Kontext.
Die Unbedingtheit, reüssieren zu müssen, sorgt auf beiden Ebenen für ein moralisches Dilemma, dem einzig mit einem Machtwort begegnet werden kann. Es ist einfach so! Und jetzt weiter im Text. Oben übt die Versicherung die Situation zwischen der dementen Frau Müller, bis über die Grenzen eines Rollenspiels empathisch verkörpert von Christoph Rath, und ihrer polnischen Pflegenden Frau Kaminska. Doch Rath verkennt den Ernst der systemischen Vorgaben und verweigert als demenzkranke Person jegliche Zusammenarbeit. Er stellt die Authentizität von Vivien Bullert als Pflegende komplett infrage und schimpft sie eine Schauspielerin, was das Geschehen oben auf eine Metaebene hievt.

 

Unten wird die Kompetenzstreitigkeit zwischen Spitex und ungelernter Polin hinsichtlich der Insulinverabreichung nachexerziert. Elisabeth Rolli holt zum verbalen feminismustheoretischen Rundumschlag aus, der das Selbstverständnis, das eigene Glück in der selbstlosen Fürsorge zu finden, läge in der Natur der Frau, als nachmaliges Fundament des Fremdpflegekonzepts mit Care-Mi­grantinnen der vielschichtigen Fehlkonzeption überführt. Die Hochschulprofessorin und Leiterin des Experiments, Meret Hottinger, zieht die Reiss­leine mit den Worten, «übergeben sie die Verantwortung mir». Natürlich anerkennt sie den Argumentationsstrang von Rolli im Grundsatz, doch fürchtet sie um ihr akademisches Renommé, sollte diese Versuchsanlage nicht zum gewünschten Resultat führen. Eine weitere Metadiskussion zieht ihre Bahnen.

 

Erst als beide Teams entgegen des Plans von der Existenz des jeweils anderen erfahren, gerät die gesamte Anlage ins Rutschen. Durch diesen äusseren Einfluss verlieren sogar die technokratischsten unter den vier SozialbeamtInnen den Glauben an die buchstabengetreue Umsetzung des ihnen vorgegebenen Regelwerks und mutieren ihrerseits kurzerhand zu Demenzkranken. Sie ersinnen sich ein Demenzdorf, in dem alle in ihrem jeweiligen Milieu glücklich werden. Doch dieser Ansatz zur Ghettoisierung erinnert sehr viel stärker an Lagergedanken, die ein Wegsperren von Unliebsamem bezwecken, denn an paradiesähnliche Idealkonzepte für ein Altern in Würde. Ihre Reden verselbstständigen sich und aus säuberlich ausgesucht formulierten Floskeln generiert das Stück an dieser Stelle die bare Absurdität. Diese Absicht ist von Anbeginn an erkennbar, schwappt stellenweise aber leider ein wenig zu stark in Richtung eines moralischen Appells – was allerdings der einzige Anflug eines Ärgernisses bleibt. Denn mit der kühlen Distanziertheit und der fachjargonbasierten sprachlichen Überführung eines delikaten, intimen und einzig auf das Wohlbefinden der Zielperson ausgerichteten Tätigkeit in eine entmenschlichte Verrichtungsmechanik wird die damit verbundene Systemkritik schon laut und restlos verständlich genug. Es in einer nochmaligen Steigerung auch für die hinterletzten Deppen verständlich zu machen, erinnert an US-amerikanische Spielfilme, die ihrem Publikum kein Selberdenken zutrauen und verwandelt eine edel mit dem Florett gefochtene Kritik in einen dummdreisten Rundumschlag mit dem Schwert.

 

Was stattdessen hübsch anzusehen gewesen wäre, wären Ansätze eines Lösungsvorschlages, aber sowas nähert sich in grossen Schritten einem frommen Wunschdenken. Woher soll Tim Zulauf Konzepte für einen Problemkomplex in petto haben, dem ein ganzer Wirtschafts- und Hochschulzweig bis hin zur Politik nachgerade sprachlos gegenübersteht? Die Aufarbeitung der sich darin zuwiderlaufenden Interessen, Sachzwänge – «It’s the economy, stupid!» –, Egoismen und Feigheiten gegenüber zu treffenden Entscheidungen werden hier indes als mutlos und unredlich im symbolischen Sinne wiewohl der reellen Entsprechung im Hier und Jetzt vorgeführt.

 

«Pflege und Verpflegung – Caregiving Caretakers», bis 29.4., Gessnerallee, Zürich.

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