Ein Leben in ständiger Unsicherheit

Die wenigsten können sich vorstellen, nachts wach zu liegen, weil man um seine Existenz fürchten muss – und das trotz Job. Laut einer SECO-Studie aus dem Jahr 2017 befinden sich rund 2,5 Prozent der Erwerbstätigen in sogenannt prekären Arbeitsverhältnissen. Das jährlich stattfindende Armutsforum der Caritas widmete sich dieses Jahr dem Thema Prekarität und fragte nach Ursachen, aber auch nach Perspektiven. 

 

Fabienne Grimm

Nora A. arbeitete viele Jahre in der Reinigungsbranche, stets schlecht bezahlt und auf Abruf. Aus Angst, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, verzichtete sie auf Sozialhilfe. Zusammen mit ihrem Mann, der als Kurierfahrer tätig war, und ihren vier Kindern lebte Nora A. von weniger als dem Existenzminimum. Irgendwie ging es – bis die Coronakrise kam. Nora A. verlor ihren Job und ihr Mann wurde auf Kurzarbeit gesetzt. Jetzt reicht das Geld schlicht nicht mehr aus. 

So wie Nora A. ist es vielen Menschen während der Coronakrise ergangen. Sie arbeiteten in niedrig bezahlten Jobs, hatten keine Möglichkeit zu sparen und sich auf allfällige Krisen vorzubereiten. Ihre Verträge waren auf Abruf angesetzt, so dass ihr Einkommen während der Krise oftmals von einem Tag auf den anderen komplett wegfiel. Menschen wie Nora A. arbeiten in prekären Arbeitsverhältnissen. Weil sie in sogenannten Jedermannarbeitsmärkten tätig sind, sind sie austauschbar. Sie stehen auf dünnem Eis und müssen stets vorsichtig sein, um nicht einzubrechen, wie es Max Elmiger, Direktor Caritas Zürich beschreibt. Für diese Menschen war die Coronapandemie wie ein Erdbeben.

 

Unsichtbare Unsicherheit

Armut und Prekarität sind in der Schweiz unsichtbar. Nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wissenschaftlich. Studien zu prekärer Arbeit gibt es in der Schweiz praktisch keine. Die SECO-Studie stellt eine Ausnahme dar. Allerdings bildet diese verschiedenste wichtige Aspekte prekärer Arbeit aufgrund ihrer eng gefassten statistischen Definition nicht ab. Sie berücksichtigt lediglich die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz, wodurch beispielsweise GrenzgängerInnen und Sans-Papiers ausgeschlossen werden. Dies ist auch der Grund für die scheinbar tiefe Quote von 2,5 Prozent. 

Die Ursachen für die Unsichtbarkeit prekärer Arbeit in der Schweiz sind vielschichtig. Wie Soziologin Eva Nadai erläutert, ist das Narrativ des Sonderfalls Schweiz immer noch vorherrschend. «Wir verstecken Armut in der Schweiz und wahren eine schöne Fassade.» Auch Max Elmiger meint: «Armut ist in der Schweiz stigmatisiert.» Das mache es schwierig, darüber zu sprechen. Ausserdem werde prekäre Arbeit in der Schweiz oft in kleinen Betrieben geleistet. Dadurch komme es nicht zu grossen Zusammenschlüssen von Arbeitnehmenden, wie dies in anderen Ländern der Fall sei. «Ein Prekariat (der Begriff setzt sich aus «Proletariat» und «Prekarität» zusammen) gibt es in der Schweiz nicht.» Prekäre Arbeit werde zudem oft nahe am Privaten geleistet, meint Elmiger. Von der Öffentlichkeit werde sie so praktisch nicht wahrgenommen. Ein Beispiel hierfür ist die durch MigrantInnen geleistete Care-Arbeit, die besonders stark von Prekarität betroffen ist. Diese findet sehr häufig in der privaten Sphäre des Haushalts statt. Hinzu kommt, dass die vielfach aus Osteuropa stammenden Care-ArbeiterInnen in der Schweiz sozial isoliert leben und kaum an der lokalen Gesellschaft teilhaben können. Wie die Soziologin Sarah Schilliger erklärt, seien sie dadurch entsprechend wenig über die ihnen zustehenden Rechte und Ansprüche informiert. Auch die im Kontext von Prekarität geleistete Arbeit für sich trägt zur Unsichtbarkeit des Problems bei, denn es handelt sich dabei vielfach um sogenannte Normalisierungsarbeiten. Reinigt beispielsweise eine Putzkraft am Abend das Büro, so wird das am nächsten Morgen nur von den wenigsten wahrgenommen und entsprechend wenig wertgeschätzt. 

 

23 Franken Mindestlohn

Damit Menschen wie Nora A. in Zukunft besser geschützt sind, muss prekäre Arbeit in den Fokus unserer Gesellschaft rücken. Dafür sei es unerlässlich, dass Prekarität in der Schweiz besser erforscht werde, meint Anna-Katharina Thürer von Caritas Zürich. «Wir müssen mehr wissen, um adäquat vorzubeugen und zu bekämpfen.» Eva Nadai plädiert ausserdem für ein Umdenken in Bezug auf Qualifizierung: «Wir leben im Land der ‘Papierlisammler’.» Ausbildungslosigkeit sei in der Schweiz mit einem grossen Arbeitslosigkeitsrisiko und mit Armut verbunden. «Durch den Fokus auf Diplome und Abschlüsse werden Qualitäten von sogenannt Unqualifizierten entwertet». Man müsse deshalb mehr Regulierung statt auf Qualifizierung setzen. 

Der Meinung, dass der Arbeitsmarkt in der Schweiz besser reguliert sein muss, ist auch Elmiger: «Wir setzen uns für faire Mindestlöhne ein, denn eine Vollzeitstelle muss existenzsichernd sein.» Aktuell setzt sich die Caritas Zürich deshalb für die kommunale Mindest-
lohinitiative «Ein Lohn zum Leben» in Zürich, Winterthur und Kloten ein. Die Initiative fordert einen branchenunabhängigen Mindestlohn von 23 Franken die Stunde. Zurzeit beträgt der Mindestlohn in der Reinigungsbranche bei unqualifiziertem Personal gemäss Gesamtarbeitsvertrag (GAV) 19.20 Franken die Stunde. Dies reicht für viele Arbeitnehmende bei Weitem nicht, so dass sie auf weitere Jobs angewiesen sind. Obwohl der GAV in der Reinigungsbranche bereits erste Verbesserungen gebracht hat, ist auch Natascha Wey, Zentralsekretärin VPOD und Gemeinderätin SP der Ansicht, dass noch viel Luft nach oben bestehe. Dies betreffe die Mindestlöhne, aber auch die Absicherungen in den Sozialversicherungen, namentlich in der zweiten Säule. Ausserdem brauche es Frühpensionierungsregelungen. 

Eine grosse Herausforderung stellen gemäss Wey vor allem auch Plattformen wie «Batmaid» oder «Uber» dar. Diese liessen sowohl die Arbeitnehmenden als auch die Kund-
Innen in vielen Bereichen bewusst im Ungewissen. Mit zunehmender Digitalisierung könnte diese Tendenz zur Plattformökonomie Prekarität noch weiter verschlimmern.

 

Chance Corona

Für viele Menschen hat die Coronakrise dazu geführt, dass das dünne Eis, auf dem sie gehen mussten, eingebrochen ist. Doch Max Elmiger sieht in der Coronakrise auch eine Chance: «Corona hat uns die Bedeutung systemrelevanter Berufe klar vor Augen geführt. Viele dieser Berufe sind unterbezahlt. Deshalb ist jetzt auch der richtige Zeitpunkt für die Mindestlohninitiative.» Auch Stadtrat Raphael Golta ist überzeugt, dass jetzt der Moment gekommen ist, Armut und Prekarität in der Schweiz endlich zu thematisieren und anzugehen: «Die Corona-Zeit hat Probleme an die Oberfläche gebracht, die wir vorher wahrscheinlich schon erahnt haben, aber die bisher noch nicht sichtbar waren. Wir mussten feststellen, dass es auch in der reichen Schweiz, auch im reichen Kanton Zürich, sehr viele Menschen gibt, die Schwierigkeiten haben, sich über Wasser zu halten, und dies trotz unseren Sozialsystemen und unseres eigentlich gut funktionierenden Arbeitsmarktes. Wir müssen uns jetzt fragen, wie wir als Gesellschaft diese Menschen besser unterstützen können, so dass unser Land ein Land für alle ist.»

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