Ein Grüner mit Realitätssinn

Die Überraschung war perfekt am Sonntagabend, den 24. März 2019: Der 32-jährige Grüne Martin Neukom schaffte die Wahl in den Zürcher Regierungsrat. Nun stellt er sich als breit akzeptierter Baudirektor zur Wiederwahl.

 

Die Wahl geschafft und sich sogar noch vor die zweite Neue, Natalie Rickli von der SVP, auf den sechsten Platz geschoben, so lautete sein Resultat bei den Regierungsratswahlen 2019. Gestresst sei er damals zwar nicht gewesen, erinnert sich Regierungsrat Martin Neukom, überrascht aber sehr wohl, ja mehr noch: «Zuerst vermutete ich, die Zahlen seien falsch, ich konnte es nicht glauben.» Doch die Wahlen vor vier Jahren seien «eine klare Klimawahl» gewesen, und deshalb wurde die eigentlich noch grössere zweite Überraschung zur kleineren: Martin Neukom bekam die Baudirektion.

 

Hand aufs Herz: Wie hätte er sich wohl als Gesundheits- oder Justizdirektor geschlagen? «Jede Direktion hat ihre spannenden Seiten», hebt er an – und gibt dann zu, in einer der genannten Direktionen hätte er sich länger einarbeiten und einleben müssen: «In der Baudirektion konnte ich als Naturwissenschaftler und dank meiner Erfahrungen, die ich zuvor im Kantonsrat als Klima- und Energiepolitiker gesammelt hatte, sofort loslegen.»

 

Einer, der ohne Rücksicht auf Verluste losrennt und «mir nach!» schreit, ist er deswegen noch lange nicht, im Gegenteil: «Bei meinen Geschäften will ich grundsätzlich in die Tiefe gehen und alles genau verstehen – vor allem auch deshalb, weil es mich persönlich interessiert», sagt er. Das habe Vor- und Nachteile, etwa für die Verwaltung: «Ich frage nach, bis ich alles verstanden habe, was für mich den Vorteil hat, dass ich es dann, beispielsweise an Medienkonferenzen oder auch im Kantonsrat, gut erklären kann. Doch indem ich nachfrage, komme ich oft auf neue Ideen, denen man auch noch nachgehen könnte. Das wird früher oder später zu einer Frage der Ressourcen.» Gleichzeitig freue er sich jeden Tag über die «sehr positive Stimmung» und die Arbeitslust in seiner Direktion, betont er.

 

Tatsächlich, trotz Energiemangellage, hohen Strompreisen und Kritik an der Axpo? Dazu gingen zurzeit viele Anfragen im Kantonsrat ein, «die jemand abarbeiten muss», sagt er, «ich eingeschlossen». Immerhin sei die Gefahr einer Strommangellage zum Glück nicht mehr ganz so gross wie noch vor zwei, drei Monaten befürchtet. Was ihm hier ebenso zugute kommt, wie wenn die EVP Solarpaneele auf dem Zürichsee fordert: Er ist als gelernter Maschinenzeichner, studierter Mechatroniker und mit seinem Master-Abschluss in solaren Energiesystemen sowie seinem Doktortitel, den er mit einer Dissertation im Bereich Physik von Solarzellen erwarb, vom Fach. Das attestieren ihm auch Bürgerliche. Alex Gantner (FDP), Präsident der Kommission für Energie, Verkehr und Umwelt (KEVU) im Kantonsrat, hebt auf Anfrage nicht nur Martin Neukoms «Dossierfestigkeit» hervor: «Er ist im richtigen politischen Bereich tätig, mit viel Leidenschaft bei der Sache und auch in der Kommission sehr präsent.» Seine Voten seien «sachlich nachvollziehbar», er sei pragmatisch unterwegs und sich bewusst, dass die Geschäfte schliesslich in der realen Welt umgesetzt werden müssten, sagt Alex Gantner – und nimmt es gelassen, dass der Baudirektor «gelegentlich Luftballons steigen lässt wie kürzlich mit der Idee von Windrädern im Kanton Zürich». Am Schluss brauche auch Martin Neukom Mehrheiten im Rat und gegebenenfalls beim Volk.

 

Energiegesetz-Erfolg

Als seinen grössten Erfolg während der zu Ende gehenden Legislatur bezeichnet Martin Neukom ohne zu zögern das neue Energiegesetz, das am 28. November 2021 mit 62,63 Prozent Ja-Stimmen durchkam, und das bei einer überdurchschnittlich hohen Stimmbeteiligung von 63,10 Prozent. Damit habe der Kanton Zürich ein wichtiges Zeichen für den Klimaschutz in der Schweiz gesetzt: «Wäre die Vorlage bei uns durchgefallen, wäre es schwierig geworden für diejenigen Kantone, die noch kein entsprechendes Gesetz verabschiedet haben.» Negativ sei «die Klimakrise generell» – und dass es einfach zu viele E-Mails zu beantworten gebe…

 

Und seine grösste persönliche Niederlage? Auch da zögert er nicht lange, sondern nennt den Streit um die Aufbereitung der Schlacken, die nach der Kehrichtverbrennung zurückbleiben. Sie hätten künftig in die neue, speziell dafür gebaute Aufbereitungsanlage in Hinwil geliefert werden sollen. Doch das kam insbesondere in Winterthur nicht gut an: «Wir hätten Winterthur juristisch zwingen können, doch das hätte zu einem langwierigen Verfahren durch alle Instanzen hindurch geführt, und darauf wollte ich es nicht ankommen lassen.» Stattdessen blieb es beim «Fachstreit», und unterdessen ist der Fall für den Baudirektor soweit abgeschlossen: «Ich versuche immer auszuloten, was geht und ob sich für ein Problem eine schnellere und bessere Lösung finden lässt. Doch ein wichtiger Teil meiner Aufgabe besteht darin, alle Beteiligten abzuholen und mit ihnen in die gleiche Richtung zu marschieren.» Als weiteres Beispiel dafür erwähnt er die Zusammenarbeit mit dem Bund beim geplanten geologischen Tiefenlager für radioaktive Abfälle. Der teils verhärtete Fachstreit konnte in konstruktive Bahnen gelenkt werden. «Niemand will ein Tiefenlager, aber irgendwo muss es ja hin. Wir wollten nicht blockieren, sondern mithelfen, eine Lösung zu finden, die sicher ist.»

 

Die Arbeit dürfte ihm auch in der kommenden Legislatur nicht so schnell ausgehen: Klimaanpassung allgemein, Siedlungsentwicklung im urbanen Raum und Hitzeminderung im Speziellen, neue Standards für Hochbauten, siedlungsverträgliche Ortsdurchfahrten… Über letztere hatten sich einst die Regierungsrätinnen Dorothee Fierz und Rita Fuhrer gestritten, erstere hatte der Streit gar das Amt gekostet. Martin Neukom ist es gelungen, den Knoten in Zusammenarbeit mit seiner Regierungskollegin Carmen Walker Späh zu lösen. Ihm ist es wichtig, die Gemeinden und deren Anliegen stets im Blick zu haben: «Ich bin Föderalist aus Überzeugung.» Und was seine Wiederwahl betrifft, ist man sich von links bis rechts einig: Es spricht zumindest aktuell nichts dagegen, dass Martin Neukom dem Kanton als Baudirektor erhalten bleibt.

 

Regierungsratswahlen 2023

Mit dieser Porträtreihe stellen wir bis Anfang Februar die bisherigen und die neuantretenden RegierungsratskandidatInnen vor: diese Woche Martin Neukom (Grüne, bisher). Erschienen im P.S. vom 09.12.2022.

 

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