Ein grosser Traum

Ich wollte jetzt wirklich nicht über das Café Boy schreiben, da muss erst mal ein wenig Zeit vergehen, dachte ich. 

Das Café Boy. Ihr wisst schon, die Beiz, die gerade bekannt gegeben hat, dass sie noch ein paar Tage kocht, bis heute in einer Woche, um ganz genau zu sein, und dann die Türen für immer schliessen muss. 

Aber je mehr man etwas nicht will, ihr wisst auch das, desto stärker kommt es dann doch genau so. 

Ich bin eng verflochten mit dem Café Boy. Ich war vermutlich sogar an einer der ersten Sitzungen dabei, vor sehr vielen Jahren, ich war schwanger mit meinem ersten Kind und eben dieser Idee. Einer grossen Idee, wie uns schien. Man müsste etwas schaffen, was nicht verpufft. Etwas Nachhaltiges, etwas Politisches. Wir dachten: das kann nur ein Ort sein, ein Ort! An dem man sich trifft, redet, debattiert, kämpft, sich widerspricht, sich findet, feiert, zusammen trauert, trinkt und isst. Denn ein Ort ist immer. Ein Ort ist nachhaltig. Es sollte ein Ort sein für uns Linke,  aber auch für das Quartier, für alle Menschen. Eine Beiz also. Das besprachen wir an einer dieser ersten Sitzungen und von da an war das der Traum. Es war ein grosser Traum. 

Wir bekamen finanzielle Starthilfen, weil andere mit uns mitträumten. Wir gründeten die Genossenschaft Wirtschaft zum Guten Menschen. Wir suchten während vieler Jahre und fanden doch nie das geeignete Lokal. Immer war es zu teuer oder zu klein, zu gross, zu weit weg. Dann kam eine, die das so richtig ernst nahm und so richtig suchte, und sie fand das Café Boy. Das fühlte sich an, als hätten wir aufeinander gewartet, die guten Menschen mit der grossen Idee und das Boy. Das war dann nicht mehr einfach so ein Ort, es war der Ort. Und dann war es so wie in vielen Beziehungen, auf die totale Verliebtheit folgte die totale Ernüchterung. Die Pandemie. 

Es war ein jäher Stopp, der für uns zu früh kam. Ein Restaurant, das erst seit wenigen Monaten am Start war – erfolgreich – aber noch gar keine Stammgäste hatte aufbauen können. Als es dann wieder losging, zaghaft, mit Auflagen, war es harzig. Für alle Beizen, nicht nur für uns. Dazu kamen Probleme an der Front. Wir brauchten lange, zu lange, um die richtige Person für die Gäste zu finden und als wir ihn nun hatten, den perfekten Chef de Service, war es zu spät. Und freilich war es nicht nur die Pandemie, die uns nun endgültig straucheln liess, es war nicht nur die lange Suche nach den richtigen Menschen im Boy, es waren bestimmt auch andere Fehler – wer macht denn keine? 

Glaubt man den Statistiken, schließen etwa 60 Prozent der neu gegründeten Restaurants innerhalb ihres ersten Jahres und fast 80 Prozent stellen ihren Betrieb ein, bevor sie ihr fünfjähriges Jubiläum erreichen. Wir sind passgenau in diesen Zahlen drin und so wie wir gehen also auch viele andere das Risiko trotzdem ein, einfach weil sie an etwas glauben, was auch scheitern kann. 

Denn bei allem Risiko gibt es auch die Möglichkeit, dass es gut kommt. Und diese Möglichkeit schien uns während der ganzen Zeit immer in Griffnähe. 

Jetzt hat es nicht gereicht. Der Ort wird bald weg sein. Die Erinnerungen bleiben. Die an den Familienznacht, wenn die Kinder im Rosa-Luxemburg-Saal Spaghetti und Brownies assen (die besten, ich habe mir immer heimlich auch welche geholt), während wir Eltern oben in aller Ruhe zusammensitzen konnten. Wie eine einzige Grossfamilie kam mir das jeweils vor, eine Rarität in Zürich, wo ein Restaurantbesuch mit Kindern beim Personal und den anderen Gästen ungefähr so gern gesehen ist wie Käfer in der Küche. Die spontanen Treffen über Mittag, wenn bekannte Gesichter aus dem ganzen Kanton auch dort waren und nicht selten die eine oder andere Idee entstand, die politisch auch umgesetzt wurde. Die langen Abendessen mit Freund:innen, dieses Siedfleisch. Die  Wahlfeiern, an denen wir in diesen letzten Jahren alle erdenklichen Emotionen gemeinsam durchgestanden haben, die Podiumsdiskussionen und Lesungen, die Musik vor dem Boy mit dem Flair einer portugiesischen Hafenstadt. Das alles ist jetzt vorbei. Diesen einen Ort für uns gibt es nicht mehr. Wir haben gross geträumt und verloren. 

Ich würd’s wieder tun.