Eigenbrötlerei

Am Freitag vor zwei Wochen wurde es dem Bundesrat zu ‹gäch›: Er rügte die ‹sorglosen› Kantone und forderte sie dazu auf, striktere Massnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie zu ergreifen – nur um dann vier Tage später selbst ein neues Massnahmenpaket anzukündigen. Dies wiederum verärgerte die Kantone, die die föderalistische Etikette verletzt sahen. Besonders erbost waren jene Kantone in der Romandie, die schon seit einigen Wochen strikte Massnahmen implementiert und bereits wieder Lockerungen vorgesehen hatten. Währenddessen sorgten die Deutschschweizer Kantone mit einer laschen Politik dafür, dass der Schweizer Fallzahlen-Durchschnitt auf hohem Niveau stagnierte und mittlerweile auch wieder ansteigt. Die Kritik aus der Romandie wurde beim Bund gehört. Das Massnahmenpaket, das am letzten Samstag in Kraft trat, sieht vor, dass Kantone, in denen die Situation unter Kontrolle zu sein scheint, die Einschränkungen lockern können. Wann dies möglich ist, definieren klar festgelegte und messbare Kriterien. Der Bundesrat kündigte ausserdem an, dass bei einer Verschlechterung der Lage Eskalationsmechanismen geplant sind. Laut Medienberichten sind insgesamt drei Massnahmenpakete vorgesehen: Ein Light-, ein Medium- und ein Maximum-Paket. 

 

Die Reaktionen auf die Massnahmen waren, wie erwartet, gemischt. Die SP, GLP und Grüne begrüssten die Tatsache, dass der Bund «das Heft wieder in die Hand» nehme, wobei die Grünen kritisierten, die Reaktion käme reichlich spät. Die CVP zeigte sich erfreut über das Vorgehen der Landesregierung und nutzte die Gunst der Stunde gleich dazu, um mit viel Pathos darüber zu schreiben, wie wichtig Solidarität und «ein Miteinander» gerade in dieser Zeit sind, und dass dies doch schon immer die Kernwerte der Partei gewesen seien. Etwas kritischer war die FDP, die in ihrer Medienmitteilung die Massnahmen zwar als «Schritt in die richtige Richtung» begrüsste, aber auch meinte, es brauche noch Klärungen. Damit sagt die FDP das, was sie eigentlich immer sagt. Erstaunen mag geneigte LeserInnen unserer Ratsberichterstattung auch, dass die FDP mitteilt, es sei jetzt besonders wichtig, die Kultur nicht zu vergessen. Oder, dass sie schreibt, man dürfe «die Gesundheit der Bevölkerung jetzt nicht gegen die Wirtschaft ausspielen – oder umgekehrt». Da fragt man sich, was mit dem Wort «Güterabwägung», das man immer wieder aus dem Mund von FDP-Politikern hören konnte, eigentlich gemeint ist.

 

Verfügt man über eine grosse Prise Zynismus, könnte man sich über die Reaktionen aus dem SVP-Lager allenfalls noch amüsieren. SVP-Nationalrat Roger Köppel, der das Virus auf Twitter ganz im Sinne seines US-amerikanischen Vorbilds gerne als China-Virus bezeichnet, zeigte sich entsetzt darüber, dass ihm aufgrund der Schliessung von Bäckereien am Sonntag das Familienfrühstück verwehrt bleibe. Man nennt das, soweit ich weiss, Güterabwägung. Gipfeli oder eine Reduktion der Fallzahlen und damit weniger Corona-Tote… Tja, so schwierig kann es manchmal sein. Der Berner SVP-Nationalrat Erich Hess erklärte derweil in einem Video auf Twitter, wie man die Massnahmen durch Gründung einer «religiösen Gemeinschaft» umgehen könne, inklusive Beispiel-Statuten. Das kann man lustig finden. Für jene, die einen geliebten Menschen aufgrund von Corona verloren haben, dürfte das Video aber ein Schlag in die Magengrube gewesen sein. 

 

Die SVP des Kantons Zürich versucht indessen erneut, die Debatte auf die Migrationspolitik zu lenken. In einer Medienmitteilung weist sie darauf hin, dass «die Intensivpflegeplätze überproportional von Personen mit Migrationshintergrund» belegt sind. Angesichts der aktuellen Situation geht es wohl nicht viel geschmackloser. Nicht weniger befremdlich sind auch Begriffe wie «diktatorische Allüren» und «Kanonenboot-Politik». Liest man die Medienmitteilung, so erscheint einem das Bild eines machthungrigen, durchgeknallten Diktators, der mit allen Mitteln versucht, den Föderalismus «zu unterbinden» und die Bevölkerung zu hintergehen. Da muss man sich fragen, auf welchem Stern die Herren und Damen von der SVP in den letzten Wochen gelebt haben. Mir erschien es eher so, als wollte man in Bern, komme was wolle, die Kantone nicht in ihrer föderalistischen Ehre verletzen. Die Landesregierung blieb fürchterlich zurückhaltend, selbst als die Zahlen im Herbst wieder drastisch anstiegen und Regierungen in unseren Nachbarländern längst strikte Massnahmen ergriffen. Aber wer weiss, vielleicht hat man sich bei der SVP zu sehr mit den Wahlen in den USA auseinandergesetzt und bei der ganzen Hektik einfach etwas verwechselt. 

 

Ja, der Föderalismus. Viele scheinen ihn zurzeit in Gefahr zu sehen – bürgerliche Parteien, die Kantone, einige verwirrte Prominente. Das mag sogar stimmen, doch es ist definitiv nicht das Eingreifen des Bundes, das den Föderalismus gefährdet. Viele scheinen zu vergessen, dass Föderalismus nur dann funktioniert, wenn die einzelnen Teile Verantwortung für das Wohlergehen des Ganzen übernehmen. Wenn sich also einzelne Kantone weigern, diese Verantwortung zu übernehmen, dann muss der Bund in die Bresche springen. Denn mit Eigenbrötlerei hat Föderalismus rein gar nichts zu tun. Hinzu kommt, dass sich das Virus um Kantonsgrenzen so viel schert, wie Erich Hess um durch den Bundesrat verabschiedete Massnahmen. Erstmal vorsichtig den Zeh ins Wasser zu halten, um die Temperatur zu überprüfen, wie man dies in der Schweiz sonst gerne tut, funktioniert bei einer Pandemie nicht. Der Schaden, der bei einer exponentiellen Entwicklung durch Abwarten entsteht, ist zu gross. Bereits jetzt ist die Lage in vielen Spitälern kritisch. Bereits jetzt ist das Gesundheitspersonal am Limit. Und bereits jetzt sind viel zu viele Menschen in der Schweiz am Corona-Virus gestorben. Dass der Bund das «Heft in die Hand» genommen hat, war deshalb wichtig und richtig. Er hätte es früher tun sollen. Das heisst übrigens auch nicht, dass sich die Kantonsregierungen aus der Verantwortung ziehen können. In der besonderen Lage liegt es weiterhin auch an ihnen, Massnahmen zu ergreifen. Wenn die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli also meint, Restaurants müssten geschlossen werden, dann kann sie dies durchaus auch selbst veranlassen. Weitere gesundheitspolitische und wirtschaftliche Massnahmen werden in jedem Fall nötig sein. Es lässt sich hoffen, dass unsere Landesregierung und unsere Kantonsregierungen nun wieder couragierter ans Werk gehen. 

 

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