Ehrenamtliches Mittelmass

Was fürchten wir mehr als Mittelmass? Wer in der Schweiz sozialisiert wurde, hat das im Blut. Lieber gar nicht, als Mittelmass. Man merkt es überall. Beim Skifahren zum Beispiel. Als noch die Zurbriggens und Müllers, die Wallisers und Figinis den Berg runterfuhren, sassen wir kollektiv gebannt vor dem Fernseher. Daumen drückend, mit klopfendem Herz. Aufatmend, wenn der Kommentator bei der Zwischenzeit einen Vorsprung ortete. Da konnten wir noch was, wir Schweizer. Nur hie und da brachte uns ein Österreicher um den eigentlich verdienten Sieg. Heute interessiert es uns nicht mehr so besonders. Wir sind Mittelmass im Skisport. Und wir sind ein bisschen enttäuscht.

 

Ähnlich fühlte wohl die Journalistin vom Radio. Da wurde tage- und wochenlang Werbung gemacht für die Wahl der Heldin oder des Heldes des Alltags. Habt ihr das mitbekommen? Wer regelmässig SRF 1 hört, der konnte nicht anders. Heldinnen oder Helden des Alltags, das sind die, die ehrenamtlich und freiwillig für andere etwas tun. Gratis und franko. Einfach aus Überzeugung. 2.5 Millionen Menschen sind das in der Schweiz, die zusammen etwa 640 Millionen Stunden Freiwilligenarbeit leisten.

 

Wie gross muss da die Enttäuschung gewesen sein, als besagte Moderatorin herausfand, dass wir im europäischen Vergleich – nur Mittelmass sind! Kann das sein, fragte sie? Ist das möglich? Sie wollte und konnte es nicht glauben und lud deshalb die Geschäftsleiterin von Benevol Schweiz, der Dachorganisation der regionalen Fachstellen für Freiwilligenarbeit, ins Studio zum Gespräch.

 

Es konnte, die Moderatorin atmete hörbar auf, einiges relativiert werden. Wie immer bei Statistiken so war es auch bei dieser europäischen Studie nämlich so, dass die Länder teilweise unterschiedlich zählen. So nimmt zum Beispiel Österreich, auf der Rangliste weit vor der Schweiz, auch die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr dazu (was uns natürlich nicht überrascht, die Österreicher haben schliesslich schon beim Skifahren beschissen). Die Moderatorin war beruhigt. Ich irgendwie nicht.

 

Ich bin ja Fan der Freiwilligenarbeit. Es rührt mich, wenn Menschen etwas tun, ohne Lohn und Aussicht auf Meriten, einfach so, weil sie es wichtig und richtig finden. Das steht unglaublich quer zur heutigen Gesellschaft, in der so viele in erster Linie einmal für sich selber schauen. Und das ist der beunruhigende Punkt: Denn Zählweise hin oder her, Tatsache ist (und das sagt eine Studie aus der Schweiz): die Freiwilligenarbeit geht zurück. Das sind schlechte Neuigkeiten.

 

Denn es wäre vieles nicht, ohne die ehrenamtliche Arbeit.

 

Die Heldin des Alltags 2015, es sind zwei. Eine Frau, die seit 15 Jahren eine Gassenküche für Randständige betreut. Sie tut es, damit die sozial Schwachen nicht noch mehr an den Rand gedrängt werden. Die andere Gewinnerin kümmert sich um Kinder mit einer unheilbaren Hautkrankheit. Nominiert war auch einer, der jeden Samstag Nachmittag mit Flüchtlingen Ausflüge macht. Damit sie nicht so sehr sich selbst überlassen bleiben. Ohne diese Menschen gäbe es das alles nicht. Auch keine Politik übrigens, die ohne ehrenamtlichen Einsatz so vieler schlicht nicht stattfinden würde. Das wäre nicht gut.

 

Es ist nicht einfach nur rührend, wenn Menschen sich freiwillig engagieren. Denn wenn wir auch gut ohne Podestplätze im Skifahren leben können: Das ehrenamtliche Engagement ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Das sagte die Frau von Benevol. Und ich stimme ihr zu.

 

 

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