«Effektiver Wahlbetrug ist nicht das Hauptproblem»

Die Zürcher Alt-Kantonsrätin und Menschenrechtsaktivistin Pia Holenstein und der ehemalige Gewerkschaftssekretär der Unia Zürich Andreas Scheu waren Teil einer vierzehnköpfigen Wahlbeobachtungsdelegation* in der Türkei. Im Rahmen des Projekts «Brückenschlag Zürich– Amed/Diyarbakır» haben sie am Wahlwochenende die Stadt Diyarbakır im Südosten der Türkei bereist – und berichten im Gespräch mit Sergio Scagliola von dem, was sie beobachten konnten.

Die vom Solifonds organisierte Reise war Teil einer Aktion, eines grösseren Netzes von rund 175 politisch unabhängigen Wahlbeobachter:innen, die am zweiten Maiwochenende in die Türkei gereist waren, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Wie war Ihr Wochenende?

Pia Holenstein: Ich bin am Freitagabend angekommen und spürte schon rundherum die angespannte Atmosphäre. Die Leute sprachen nicht wie sonst, niemand lachte. Am Samstag dann trafen wir die Vertreter:innen der prokurdischen HDP und die örtlichen Kandidierenden. Alle strotzten nur so vor Engagement und Kraft, vielleicht auch vor Aufregung vor diesem Wahlsonntag. Gleichzeitig war die Situation auch ein wenig skurril, sobald man auf die Strasse kam – wohin man schaute, war Erdoğans Gesicht plakatiert. Dabei ist die kurdisch dominierte Stadt Diyarbakır die Hochburg der HDP. Am Samstagnachmittag wollten wir zu einem Wahlfest von Yeşil Sol, der links-grünen Partei, unter deren Namen die HDP für diese Wahl antrat.

Andreas Scheu: Die Übermacht Erdoğans war wirklich eindrücklich. Diyarbakır war blau – die Farbe der Regierungspartei AKP. Die Yeşil Sol – die HDP unter neuem Namen, weil diese ein Verbotsverfahren hängig hatte und damit rechnete, kurz vor der Wahl aus dem Verkehr gezogen zu werden – war derweil auf den Plakatwänden überhaupt nicht vertreten und die wenigen Nicht-Erdoğan-Plakate wirkten wenig professionell gestaltet, obwohl Diyarbakır die HDP-Hochburg ist und sie 80 Prozent der Stimmen erwartet hat. Und das war eigentlich schon ziemlich bezeichnend: Die grossen Wahlmanipulationen sind vor dem eigentlichen Wahlakt geschehen. Die HDP beispielsweise ist massiv eingeschränkt worden, 150 wichtige Parteikader und Anwälte (die nicht schon im Gefängnis oder Exil sind) wurden kurz vor der Wahl verhaftet. Das reiht sich auch ein in die massive Polizeipräsenz, die uns auffiel. In Diyarbakır allein  standen gefühlt mehr Wasserwerfer, als es wohl in der Schweiz gibt. 

Wie hat sich diese Übermacht des Regimes und die damit verbundene Einschüchterung gezeigt?

P.H.: Ins Areal, wo das Wahlfest stattfand, bin ich zum Beispiel gar nicht reingekommen, weil drei Polizeicheckpoints direkt davor standen und meine Kollegin mit ihrer Kamera abgewiesen wurde. Die Abschreckung war massiv und völlig unglaubwürdig: Uns allen wurden die Taschen peinlich durchsucht und komischerweise alle Stifte weggeworfen. Plötzlich standen dann auch zwei Polizisten vor uns, die auf dem Polizeiposten abklären wollten, von was für einer Organisation wir seien. Sie haben die Kamera durchgecheckt und wir konnten uns nur mit Mühe rausreden. Aber ich bin mir sicher, es hätte auch weniger glimpflich ablaufen können – andere Wahlbeobachter:innen wurden an verschiedenen Orten komplett blockiert. 

A.S.: Ich konnte derweil Zugang zum Wahlfest bekommen, auch wenn wirklich alle gefilzt wurden – die Männer in der Schlange links ohne «Kabinli», die Frauen auf der anderen Seite mit. Unsere kurdischen Freund:innen haben aber erklärt, es sei schon viel schlimmer gewesen – und es sei eigentlich auch zur Sicherheit nötig, denn bei den letzten Wahlen etwa seien Bomben explodiert. Es ist umso eindrücklicher, wie warm und offen, wie zuversichtlich und optimistisch die Menschen uns begegneten. Uns ist extrem viel Wertschätzung entgegengekommen – und unsere Präsenz hat die Anwesenden auch gefreut. Was wohl aber auch der Begleitung durch Personen aus der örtlichen HDP-Partei zu verdanken war.

Auch in den Wahllokalen?

P.H.: Man muss sich das so vorstellen: Abgestimmt wird in Schulen und dort ist jedes Klassenzimmer für eine Bevölkerungsgruppe reserviert. An der Tür ist eine Liste mit deren Namen, meistens alphabetisch gruppiert. Unabhängige Beobachter:innen wie wir dürfen theoretisch zwar in die Schulen, aber eigentlich nicht in die Räume, in denen die Stimme abgegeben wird. Wir wurden aber meistens trotzdem hereingewinkt und freundlich begrüsst. In den Wahllokalen, also den Zimmern, überwachen die Vertreter:innen verschiedener Parteien den Vorgang. Deshalb war die Atmosphäre da auch etwas neutraler. Aber bei der Bevölkerung war die Freude völlig offensichtlich. Wir wurden extrem willkommen geheissen, ständig gab es Händedrucke, und auch die Vertreter:innen der örtlichen Parteien waren sehr freundlich.

Wieso war die Stimmung Ihnen gegenüber aber so freundlich, wenn die allgemeine Situation so angespannt war?

P.H.: Naja, es kommt darauf an, wo man sich bewegt hat. Die Polizei war uns offensichtlich feindlich gesinnt und in den Wahllokalen sah man schon auch jene, die wahrscheinlich die Regierung oder den rechtsextremen Kandidaten wählten. Die Bevölkerung in Diyarbakır war uns gegenüber zwar extrem freundlich, aber eine generelle Bedrücktheit oder Sorge war durchaus auszumachen. 

Wie hat sich diese feindliche Gesinnung seitens Polizei Ihnen gegenüber ausgedrückt?

A.S.: Wir waren in vier Wahllokalen, vor dreien wurden wir kontrolliert, im vierten hat man uns den Zutritt verwehrt. Vor dem zweiten Wahllokal hat die Polizei uns sogar verfolgt und es war offensichtlich, dass die Polizei untereinander vernetzt war. Auf dem Weg zum zweiten Lokal standen plötzlich mitten auf der Strasse zivile Polizeiautos neben uns, kurz darauf waren wir umstellt von Zivilpolizisten mit Pistole im Holster.

P.H.: Sie haben uns da wirklich ein wenig gekesselt. Wir mussten alle unsere Ausweise rausrücken und sie haben alles genaustens aufgenommen. Die Polizei hat auf Fehler nur so gewartet. Unserem Fahrer ist der kleine Fehler unterlaufen, auf Nachfrage zu erklären, wir seien von der Presse, worauf ihm vorgehalten wurde, er hätte die Beamten angelogen. Aber dank unseren türkisch sprechenden Kolleg:innen wurden wir doch noch freigelassen, bevor die herbeigerufenen Vorgesetzten ankamen.

A.S.: Wir hatten da wohl auch Glück. Andere Wahlbeobachter:innen wurden stundenlang festgehalten. Aber wir waren in einem Gebiet, in dem die Repression am Wahlwochenende wohl nicht allzu stark war.

P.H.: Eigentlich ist ja auch klar, dass die Polizei überhaupt nichts gegen die Festgehaltenen in der Hand hat. Dort sieht man auch, dass die Türkei wirklich ein kompletter Polizeistaat ist. Die Bevölkerung muss selbst aufpassen. Wenn zur Kundgebung gegangen wird, werden Schuhe angezogen, mit denen man schnell rennen kann. 

Hat die Delegation Repression gegen die Parteivertreter:innen beobachtet? Im Vorfeld wurden schliesslich viele Personen festgenommen.

P.H.: Die Repression findet sich bereits in der Ausgangslage. Beispielsweise der Begriff «kurdisch» – den darf man nicht benützen. Kurdische Organisationen nennen sich darum ‹mesopotamisch› im Namen, um weiterbestehen zu können. Deshalb wurde die einstige BDP umgetauft in HDP «Demkratische Partei der Völker», kann sich nicht mehr prokurdisch nennen und dieses Jahr musste sie gar den ‹neuen› Namen für die Wahlen zugunsten von Yeşil Sol ablegen, weil die Partei systematisch kriminialisiert wurde. Alle wissen natürlich, wofür die HDP steht, aber der inoffizielle beziehungsweise der ‹alte› Name der Partei ist wie Gift. Diese Art von Repression zieht sich durch den Alltag. Bei vergangenen Wahlen war die Repression zwar durchaus brutaler, heute konzentriert sich die AKP mehr auf Beeinflussung über Medien, die öffentliche Wahrnehmung mit der Plakatierung ganzer Städte und so weiter. In Bezug auf die Wahlen heisst das: Effektiver Wahlbetrug ist nicht das Hauptproblem.

…sondern die Ausgangslage lässt eine faire Wahl gar nicht zu?

A.S.: Der Wahlkampf ist ohnehin nicht fair. Deshalb war unsere Hauptfunktion auch, Support und Solidarität mit der HDP öffentlich zu zeigen. Das war auch der Grund, weshalb unsere Präsenz derart wertgeschätzt wurde, weshalb uns auch im Nachhinein noch so viel Dank seitens der HDP ausgesprochen wurde. Und nicht nur die HDP, auch das Regime realisiert so, dass diese Bewegungen internationale Unterstützung bekommen. Das ist das wichtige Signal. Die Polizei sieht unsere Anwesenheit ja auch. Wahlbetrug könnte man ohnehin nur schlecht in den Wahllokalen nachweisen. Aber der Betrug geschieht um die Wahl herum.

P.H.: Die Reise hat uns auch gezeigt, wie fest dieses Engagement für einen Regimewechsel in der Bevölkerung verankert ist. In den Städten im kurdischen Gebiet der Türkei hat Kemal Kılıçdaroğlu über 65 Prozent der Stimmen geholt bei einer astronomisch hohen Wahlbeteiligung.

Aber das ist ja doch interessant: Die HDP ist nicht an die Oppositionskoalition gekoppelt, dennoch stehen alle hinter Kılıçdaroğlu.

A.S.: Es geht den Leuten nunmal um einen grundlegenden Wechsel. Wer dieses Amt besetzt, das mit der Abwahl freiwürde, ist nur sekundär wichtig. Deshalb setzt sich die HDP auch für eine Opposition ein, die beispielsweise nicht wirklich prokurdisch ist. Und die Vormachtsstellung des Regimes zeigt sich auch in den Medien. Als wir am späten Nachmittag zurückgekommen sind, lief auf allen Fernsehkanälen ständig die Verkündung von Wahlresultaten. Und überall – schon seit dem frühen Abend – wurde kommuniziert, Erdoğan sei weit voraus, die Opposition abgeschlagen. Unsere kurdischen Freund:innen waren darüber entsetzt und sahen darin eine Strategie, die Opposition zu demoralisieren, indem nur die Resultate der Wahlbüros an die Medien gespielt werden, in denen die AKP stark ist. Wo man wusste, dass die Opposition führt, da wurden Einsprachen gemacht. Das hat ein ganz konkretes Ziel: Es gibt 195  000 Stimmenzähler:innen, jeweils fünf in einem Büro. Wenn die Opposition so demoralisiert ist, dass sie keine Lust mehr hat und das Lokal verlässt – dann kann betrogen werden. 

P.H.: Deshalb hat Kemal Kılıçdaroğlu auch den ganzen Tag über gemahnt, sich nicht entmutigen zu lassen. Vielleicht weiter dazu, wie Wahlbetrug hier aussehen könnte: Das Militär stand teils in den Wahlorten, obwohl sie das nicht durften. In unserem Bericht ist auch aufgeführt, dass bei einer Gruppe das Militär in einem Lokal gesichtet wurde, sich aber sofort aus dem Staub gemacht hat, sobald sie die Wahlbeobachter:innen gesehen haben. Staatsangestellte hätten weiter einen Blankoscheck gehabt, sie mussten sich also nicht an einem konkreten Ort zur Wahl anmelden, sondern hätten so theoretisch mehrere Wahlzettel einwerfen können. Das zumindest, was uns erzählt wurde. Generell ist der Tenor aber: Bei den Wahlen selbst wurde nicht manipuliert, sondern im Vorfeld sabotiert. 

Das mit der Veröffentlichung einzelner Resultate deckt sich auch mit dem gegenseitigen Vorwurf zwischen Regierungspartei und Opposition, die Wahl zu verlängern.

A.S.: Das ist genau wegen diesen Einsprachen. Die Parteien haben die Möglichkeit, Einsprache zu erheben, wenn sie das Gefühl haben, die Zählung sei nicht sauber. Deshalb sitzen auch Parteivertreter:innen in den Wahlbüros. Und alle erheben diese Einsprachen. In den Medien stand derweil, Erdoğan hätte die absolute Mehrheit. Hatte er aber nicht. 

P.H.: Die Sender strahlten einfach Erfolgsmeldungen aus, lange bevor überhaupt offizielle Zahlen vorhanden waren. Erdoğans Sieg stand dann für viele Millionen schon vor der Auszählung fest.

Und doch, trotz aller angeblicher Sabotage und Manipulation kommt es nun zur Stichwahl. War das absehbar?

P.H.: Ich habe daran gezweifelt, aber die Opposition hat wirklich geglaubt, auf Anhieb gewinnen zu können. Und es ist schon so, dass extrem viele Leute diese Regierung weghaben wollten. Trotz der massiven Staatspropaganda ist ja es sehr knapp geworden. Das bedeutet einen Prestige- und Machtverlust. Aber ich zweifle nicht daran, dass Erdoğan diese Stichwahl gewinnt. 

A.S.: Das glaube ich auch, der Unterschied ist zu gross. Und da sind noch die Stimmen des Dritten (Anm. der Red.: Sinan Ogan, der dritte im Rennen, hat vergangene Woche seine Unterstützung für Erdoğan ausgesprochen). Vielleicht ist damit aber eingeläutet, dass das Regime die nächsten fünf Jahre nur mit Mühe oder gar nicht übersteht.

* Die Wahlbeobachtungsdelegation war am Wahlwochenende, vom 12. bis zum 15. Mai in Diyarbakır. Die Entscheidung per Stichwahl, wer das Amt des Präsidenten besetzt, erfolgt am 28. Mai. Das Gespräch wurde am 16. Mai geführt.  

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