Echte Männer weinen nicht

Nicht nur Frauen leiden unter den patriarchalen Strukturen, sondern auch Männer – doch eben nur, wenn sie nicht den gängigen Männlichkeitsnormen entsprechen. Die Folgen davon sind weitreichend: Höhere Suizidrate, mehr Gewalt und Hemmungen, Gefühle zu zeigen.

 

Tamara Funiciello*

 

In den letzten Monaten wurde viel über Gewalt an Frauen diskutiert, doch die Debatte kratzte nur an der Oberfläche. Klar, wir müssen darüber reden, dass ein «Nein» immer «Nein» bedeutet. Wir müssen diskutieren, wie wir gewaltbetroffene Frauen unterstützen und schützen können, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus oder finanziellen Möglichkeiten. Und wir müssen immer und immer wieder sagen, dass Gewalt – ob nun an Frauen oder Männern – ein Männerproblem ist: 2017 waren laut der polizeilichen Kriminalstatistik 93.4% der Beschuldigten bei schweren Gewaltdelikten Männer. Man stelle sich vor, eine andere Gruppe wäre statistisch so auffällig! Wir müssen deshalb vor allem auch darüber reden, welche Ursachen Männergewalt hat. Was führt dazu, dass Amokläufe fast ausschliesslich von Männern begannen werden? Und welchen Zusammenhang gibt es zwischen Männergewalt und unseren Vorstellungen davon, wie ein Mann zu sein hat? Im englischsprachigen Raum wird schon seit geraumer Zeit ein Konzept diskutiert, dass hier Erklärungsansätze liefert. Es geht um die «toxische Männlichkeit» (toxic masculinity). Das heisst mitnichten, dass alle Männer als Individuen «toxic», also giftig sind. Es geht darum, dass wir als Gesellschaft bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit haben und prägen, die nicht nur schädlich, sondern gefährlich sind – und zwar für alle Geschlechter. Trotzdem hinterfragen wir sie kaum. Das hat fatale Konsequenzen.

 

Echte Männer sind stark. Sie zeigen ausser Wut keine Emotionen, schon gar nicht öffentlich. Sie können und wollen immer Sex haben, reden nicht gerne über Probleme und beissen die Zähne zusammen, wenn sie Schmerzen haben. Echte Männer weinen nicht. Männer haben im Schnitt eine tiefere Lebenserwartung, sie haben mehr Unfälle, sie suchen bei psychischen Problemen seltener Hilfe und sie wählen bei Suizidversuchen «aggressivere» Methoden. Kurzum: Toxische Männlichkeit ist tödlich. Aber nicht nur für Männer selbst, sondern auch für ihr Umfeld. Immer wieder bedrohen, verprügeln oder töten Männer ihre Partnerinnen. Hört man sich auf einem Spielplatz um, erstaunt das nicht sonderlich: Wenn Paul im Sandkasten weint, wird ihm gesagt, er sei doch schon ein grosser Junge und grosse Jungen weinen nicht. Schlägt er sein Spielgspänli mit einer Schaufel, kommt oft nur halbherzige Kritik (halbherzigere als gegenüber seiner Schwester) – Jungs sind halt einfach etwas wilder. Das sind Momente, die für sich alleine wohl nicht viel Schaden anrichten würden. Aber ein System, das diese Form von Männlichkeit immer wieder reproduziert und glorifiziert, in dem Pausenplatzrangeleien ebenso unhinterfragt hingenommen werden wie wenn bei einem Mord aus Eifersucht von «Liebesdrama» gesprochen wird, ist der ideale Nährboden für Gewalt an Frauen. Denn diese Vorstellung von Männlichkeit verhindert, Alternativen zu aggressivem Verhalten oder Gewalt zu lernen.

 

Die andere Seite dieser «toxischen Männlichkeit» ist, dass alles weiblich Assoziierte systematisch abgewertet wird. Das reicht von «Pussy» als Beleidigung für Männer, die vermeintlich schwach sind bis zu einer strukturellen Unterbezahlung von klassisch weiblichen Berufsbranchen. Das bedeutet aber nicht, dass Frauen und Männer dieselben Probleme haben. Denn trotz aller Nachteile, die das Patriarchat auch für Männer bringt, haben Männer als gesellschaftliche Gruppe Macht, Frauen nicht. Männer besitzen einen Grossteil des Vermögens und sie sind überall dort massiv übervertreten, wo Entscheide gefällt werden. Anders gesagt: Männer haben kein Problem, weil sie Männer sind. Sie haben immer dann ein Problem, wenn sie nicht diesem Ideal entsprechen, wenn sie also Gefühle zeigen, sich um Kinder kümmern oder Röcke tragen wollen, wenn sie nicht «männlich genug» sind. Frauen hingegen werden diskriminiert, weil sie Frauen sind.

 

Was heisst das nun? Wenn wir Gewalt an Frauen effektiv bekämpfen wollen, müssen wir dieses strukturelle Machtungleichgewicht auflösen. Genau deshalb ist die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen so bahnbrechend. Sie hält fest, dass die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern eine zentrale Ursache von Gewalt gegen Frauen sind und diese wiederum Geschlech­terhierarchien aufrechterhalten. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssen wir unser Bild von Männlichkeit verändern und Geschlechterstereotypen auflösen: Ich will, dass Männer Lippenstift zur Arbeit tragen können, wenn ihnen danach ist. Ich will, dass Kinder egal welchen Geschlechts im Feenkostüm Fussball spielen, wenn sie darauf Lust haben. Ich will in Filmen mehr weinende Männer und fluchende Frauen sehen.

 

* Tamara Funiciello war bis vor kurzem Juso-Präsidentin.

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