- Im Kino
Durchstarten
In einer vollgetaggten Ruine ohne Fenster und Türen alias Familienwohnung versucht die zwölfjährige Bailey (Nykiya Adams), ihren Verstand nicht zu verlieren. Ihr optisch kaum viel älterer Erzeuger Bug (Barry Keoghan) freut sich auf die kommende nächste Hochzeit, die ausschweifenden Parties mit seinen Kumpels und seine nächste grosse Geschäftsidee, deren Illegalität kaum nachzuweisen sein wird. Ihre Mutter und die beiden kleinen Schwestern trauen sich kaum auf die Strasse, aus Furcht vor den Gewaltausbrüchen von Mums neuem Lover. Da taucht auf dem Dach einer Industrieruine eine Figur wie aus dem Märchen auf, die Flügel und Röckchen trägt und über allem zu schweben zu vermögen scheint. Dieser «Bird» (Franz Rogowski) wird im neusten Film von Andrea Arnold («Fish Tank») für Bailey zur rettenden Projektionsfläche. Nicht dass er aktiv ins Geschehen eingreifen oder sie gar zu irgendeiner aktiven Tat animieren würde. Er ist einfach da. Steht ihr stoisch zur Seite. Gibt ihr Halt und spricht ihrem wilden inneren Gefühlsdurcheinander das Vorrecht zu, allein das eigene Gutdünken als Leitfaden anzuerkennen und entsprechend zu agieren. Gegenüber ihren beiden kleinen Schwestern fühlt sich Bailey verpflichtet, sie aus der Schusslinie zu nehmen und in eine Geborgenheit zu führen. Im Wissen darum, dass sie dafür weder über die Mittel noch die Macht verfügt. Gegenüber ihrem Dad und seiner Rauschbagage fühlt sie sich dazu berechtigt, ihre ersten Schritte zur Selbstdurchsetzung an ihnen zu erproben. Was bei all dieser vielfältigen Übung in Konfrontation indes unter die Räder zu geraten droht, ist das eigene, höchstpersönliche Wohlergehen. Auf allen Ebenen der menschlichen Urbedürfnisse. Die Kaputtheit der Bailey umgebenden Szenerie und die diese bevölkernden Figuren dient bei Andrea Arnold nicht allein das Abbild einer umfassenden Verwahrlosung ohne Ausweg, sondern ist im Gegenteil genauso der Ursprung und die Grundlage für eine Selbstdurchsetzung und -gesundung.
«Bird» spielt in den Kinos Houdini, Movie.