Düstere Wendung
von Anatole Fleck
Vielleicht hätte sich der Nahostkonflikt durchaus wieder seinen Platz ergattert, drehte sich das Medienkarussell um Trump und eine Handvoll Partygänger im Zürcher Club Flamingo nicht so rapide um sich selbst. Beliebt war und ist natürlich auch (noch immer) Corona – nun beispielsweise in der Form von Natalie Rickli, die mittels wetterndem Tweet in Richtung Bundesrat und BAG den Groll der ‹Community› auf sich gezogen hatte.
So vollziehen sich die neusten Wendungen im Morgenland etwas stiller als auch schon – nichtsdestotrotz mit fataler Wirkung: Laut dem israelischen Koalitionsvertrag der Regierung Ganz-Netanyahu hätte der Regierungschef ab vorgestern 1. Juli mit der Annexion von rund einen Drittel des Westjordanlandes beginnen können. Diese «Eingliederung» des fruchtbaren Jordantals, mit seinen 117 israelischen Siedlungen, wäre ein weitreichender Schritt, der die Machtverhältnisse weiter zugunsten Israels und zuungunsten der Palästinenser verschieben könnte. Er ist zugleich auch gewichtiges Wahlversprechen Benjamin Netanyahus und Teil von Donald Trumps «Nahost-Friedensplans». Dieser, im Januar veröffentlicht, hat eine Zweistaatenlösung zum Ziel, deren Ausgestaltung der Nahostexperte Geoffrey Aronson in einem Interview jüngst als Abkehr von «allen Strategien der internationalen Gemeinschaft und jeglicher Diplomatie» bezeichnete.
Zu Recht, ist der im Duo ausgeheckte Plan doch ein dunkler, unilateraler Weg, den Israel – mit Rückendeckung aus den USA – beschreiten würde. Einer, an dessen Ende kaum ein Hauch von Frieden und beidseitiger Gerechtigkeit stehen wird. Was feststeht: Die Annexion ist völkerrechtlich verboten und könnte der regionalen Stabilität kurz-, mittel- und langfristig schaden. Für die PalästinenserInnen wäre Netanyahus «Ausweitung der Souveränität» eine weitere Tragödie in einer ganzen Saga von enttäuschten Hoffnungen und gebrochenen Versprechen – wenn nicht gar der Todesstoss für die ohnehin schon schwer fassbare Vision eines lebensfähigen und unabhängigen Staates Palästina. Und für die radikale Hamas natürlich ein Freipass für zur weiteren Delegitimierung der im Westjordanland regierenden Fatah-Regierung unter Mohammed Schtajjeh. Logisch spricht man bereits von einer «Kriegserklärung» – lebt die Hamas doch vor allem vom militärischen Widerstand und der simplen Nicht-Anerkennung Israels.
Während Benjamin Netanyahu wohl bestreiten würde, dass seine (oder Trumps?) Idee bar jeder Vernunft ist, scheint klar, dass er ein riesiges Loch ausnutzt. Ein Loch, in dem eigentlich ein aktiver, unparteiischer Friedensprozess stattfinden sollte. Die letzten Verhandlungen zwischen den ewigen Konfliktparteien, die nicht auf Papier stattfanden, sind lange her. Und wie so oft in diesem Konflikt, scheinen gesunder Menschenverstand und Vernunft also in den Hinterkopf verbannt. Denn faktisch kontrolliert Israel das Jordantal ja bereits, warum also eine Welle der Empörung, der Gewalt und des Leids riskieren? Vieles riecht nach eitlem Vermächtnisprojekt seitens Netanyahu und seinem Hauptsponsor Trump – beide politisch angeschlagen. Noch ist nichts Offizielles geschehen. Und so läuft das Rätselraten um ob, wie, wo und wie viel auf Hochtouren.
Viele Israelis selbst sind aber gegen die Erweiterung ihres Staatsgebiets, wenn auch aus verschiedenen Gründen: 220 ehemalige Kommandeure der Israeli Defence Forces sowie der Sicherheitsorgane des Mossad und des Shin Bet haben ihr Land bereits aufgefordert, den von der UNO unterstützten Zwei-Staaten-Weg zu beschreiten, den sie als «wesentlich für Israels Sicherheit» und seine demokratische Zukunft bezeichnen. Die politisch fast ausgehebelte Linke im Land sieht das längst so, während die Koalitionspartner in der Regierung noch unentschlossen wirken. Doch auch rechtsnationalistische Siedlerkreise stellen sich gegen den Plan des Ministerpräsidenten: Sie betrachten das gesamte Westjordanland sowieso als rechtmässigen Teil ihres Landes. Und dass sich 15 Siedlungen als Enklaven in einem im «Friedensplan» später vorgesehenen Palästinensischen Staat befinden würden, ist diesen SiedlerInnen bereits ein Kompromiss zu viel: Sie lehnen die Schaffung eines solchen kategorisch ab. Auf dem internationalen Parkett finden sich eine völlig handlungsunfähige UNO und die EU, welche wie so oft in Opposition zu Trump steht, der mit seinem Hauruck-Plan wohl vor allem an sich und seine Chancen in der Präsidentschaftswahl dachte und denkt. Doch auch in Brüssel fehlt die politische Perspektive: Ziel scheint bis anhin zu sein, den Status quo möglichst bis nach der US-Präsidentschaftswahl zu erhalten, In der Hoffnung, dass Joe Biden Donald Trump im November aus dem Amt fegt und den «Friedensplan» mit ihm. Wirtschaftliche Sanktionen seitens der Union – Israels mit Abstand wichtigster Handelspartner – scheinen ausgeschlossen.
Auch die ernsthafte Gefährdung des kleinsten gemeinsamen EU-Nenners der Nahostpolitik – das Festhalten an einer Zweistaatenlösung unter Einbezug beider Seiten – scheint nicht für erhöhte Einigkeit auszureichen. Einige Mitgliedsländer könnten dafür die Anerkennung des Staates Palästina in Erwägung ziehen – ein symbolischer Schritt, mit wenig direkter Wirkung. Viele europäische Blicke dürften sich derweil nach Deutschland richten, begann am 1. Juli doch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft als auch der einmonatige deutsche Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Um das Thema herumkommen dürfte man in Berlin also kaum. Der deutsche Bundestag erliess am Mittwoch eine Resolution, in welchem er sich klar gegen die Erweiterungspläne ausspricht. Ob das reichen wird, um die Annexion zu verhindern? Wer weiss.
Was klar ist: Wenn Netanyahu und Konsorten so Realitäten schaffen, wird das Konzept der Zweistaatenlösung stetig obsoleter. Die palästinensische Autonomiebehörde kontrolliert heute de facto nur rund 18 Prozent des Westjordanlandes. Wasser, Bewegungsfreiheit oder Dienstleistungen: Israel hat die Kontrolle. Wenn die Palästinensische Autonomiebehörde also mit eine Aufhebung aller politischen Vereinbarungen droht, tut sie es aus purer Verzweiflung. Nickolay Mladenov, UNO- Koordinator für den Nahostfriedensprozess, sprach in Jerusalem vor einem «Moment von historischer Tragweite» für die Region. Wenn die Ein-Staaten-Realität, die vom Jordan bis zum Mittelmeer reicht, mittels Annexion einseitig zementiert werden sollte, ist mit einer neuen Welle der Gewalt und des Leids zu rechnen. Es wäre dann leider kein neu anmutender Moment.